Murray vs. Motorola: konsolidierte Argumentation der Kläger (Allgemein)

H. Lamarr @, München, Donnerstag, 15.02.2024, 00:43 (vor 90 Tagen) @ H. Lamarr

Am 13. Februar 2024 hinterlegten die Beschwerdeführer (Kläger) am Berufungsgericht einen 65 Seiten umfassenden Hauptschriftsatz, mit dem sie ihre konsolidierte Rechtsauffassung begründen, das summarische Urteil der Vorinstanz sei wegen Verfahrensfehlern aufzuheben. Zugleich beantragten sie eine mündliche Verhandlung. Federführend verantwortlich für den Schriftsatz zeichnet die Kanzlei Morganroth & Morganroth.

Aus dem Schriftsatz geht hervor, dass von den 13 Fällen, die unter Murray et al. vs. Motorola et al. bis Mitte 2023 am Superior Court von Washington D.C. verhandelt wurden und jetzt am Court of Appeals verhandelt werden, acht der 13 Hauptkläger bereits verstorben sind. Freundlicherweise stellten die Kläger ihrer umfassenden konsolidierten Argumentation eine Zusammenfassung voran, die kurz genug ist, um die Kernpunkte der Argumente in deutscher Übersetzung wiederzugeben:

Nachdem die Murray-Fälle auf der Grundlage des Frye/Dyas-Beweisstandards verhandelt worden waren und fünf wissenschaftliche Sachverständige für den Nachweis der allgemeinen Kausalität zugelassen wurden, änderte im Oktober 2016 [Link eingefügt vom Postingautor] der Court of Appeals von Washington D.C. rückwirkend den Standard für die Zulässigkeit von Sachverständigen auf Daubert-Regel 702. Bei Erlass des Beschlusses machte das Revisionsgericht deutlich, den Klägern dürfen aus der Rückverweisung und der Anwendung des neuen Beweisstandards keine Nachteile erwachsen. Es wies den Superior Court an, alle erforderlichen Beweiserhebungen durchzuführen, "um Nachteile und Ungerechtigkeiten für die Kläger zu vermeiden" und sich mit dem neuen Standard und der sich weiterentwickelnden Wissenschaft auseinanderzusetzen. Doch der Superior Court ignorierte die Anweisung. Er verweigerte stattdessen eine neue Beweisaufnahme, hielt an der Frist vom 1. Februar 2013 für die Benennung von Sachverständigen und die Einreichung von Sachverständigengutachten fest, obwohl seither eine Fülle neuer wissenschaftlicher Studien erschienen waren, und weigerte sich, den Klägern zu gestatten, Sachverständige hinzuzuziehen, die sich erst kürzlich auf Grundlage des neuen wissenschaftlichen Kenntnisstands eine Meinung gebildet haben [gemeint damit ist insbesondere Christopher Portier; Anm. Postingautor]. Darüber hinaus erlaubte der Superior Court den Kausalitätsexperten der Kläger nicht, ihre Gutachten auf Grundlage der neuen wissenschaftlichen Forschung zu aktualisieren und verweigerte ihnen, Studien aus der Zeit vor 2013 zu zitieren oder anzusprechen, sofern diese nicht schon in ihren Gutachten aus dem Jahr 2013 zitiert wurden. Die letztgenannte Einschränkung gilt selbst dann, wenn besagte Studien die Anforderungen des neuen Beweisstandards erfüllen, nicht aber die des alten oder sie zu neuen/geänderten Gutachten führen würden, dürften sie mit den neuen wissenschaftlichen Studien aus der Zeit nach 2013 kombiniert werden. Der Superior Court hat die ergänzenden Berichte und Gutachten der Kausalitätsexperten der Kläger aus dem Jahr 2017 verworfen, dann die Experten nach Daubert-Regel 702 auf Grundlage ihrer verworfenen Berichte und Gutachten ausgeschlossen und schlussendlich sämtliche Murray-Fälle wegen des Ausschlusses der Kausalitätsexperten abgewiesen. Jede dieser Entscheidungen ist eindeutig fehlerhaft, ermessensmissbräuchlich und offensichtlich ungerecht. Denn sie fügen den Klägern schweren Schaden zu, indem sie diese im Wesentlichen auf den Stand der Wissenschaft des Jahres 2013 festlegen und die Kläger daran hindern, auf den vollen Bestand der wissenschaftlichen Beweise zuzugreifen, welche sich in den 23 Jahren der Murray-Verhandlung und insbesondere im letzten Jahrzehnt erheblich verdichtet haben.

Kommentar: Die Zusammenfassung liest sich ziemlich erschütternd und man ist geneigt, den Klägern eine an 100 Prozent grenzende Erfolgsaussicht einzuräumen. Gäbe es da nicht ein Haar in der Suppe, das Zweifel weckt.

Da die Passage "um Nachteile und Ungerechtigkeiten für die Kläger zu vermeiden" wörtlich zitiert wird, habe ich versucht, das Textoriginal "in order to prevent prejudice and unfairness to Plaintiffs" in der besagten Entscheidung des Courts of Appeals (2016) zugunsten des Daubert-Standards zu finden. Das führte zu keinem Treffer! Sinngemäß kommt die folgende Passage dem Zitat noch am nächsten:

[...] Plaintiffs also argue that any new rule we adopt should not apply to these cases, but such an outcome would be inconsistent with the very purpose for entertaining an interlocutory appeal. See note 5, above. Judge Weisberg explained that if this court adopted a new rule governing the admissibility of expert testimony, he “could then allow whatever additional discovery might be necessary to place Plaintiffs in a fair position to litigate that issue.” [...]

Das entscheidende Fragment daraus lautet in deutscher Übersetzung:

[...] Richter Weisberg erläuterte, dass er, wenn dieses Gericht [Court of Appeals] eine neue Regel für die Zulässigkeit von Sachverständigenaussagen annehmen würde, er "dann die zusätzliche Beweiserhebung zulassen könnte, die notwendig wäre, die Kläger in eine faire Position zu bringen, um diese Frage zu verhandeln".

Das liest sich jetzt doch merklich anders. Die Morganroths legen das Zitat dem Gericht in den Mund. Wörtlich gesagt hat es jedoch niemand. Sinngemäß gesagt hat es Richter Weisberg, also einer der Richter aus der Vorinstanz (Superior Court), deren Urteil zu Ungunsten der Kläger die Morganroths jetzt gerne annullieren möchten. Mit solchen Verdrehungen von Tatsachen passt sich der federführende Rechtsbeistand der Kläger mMn nahtlos an den Drehwurm an, der sich seit Jahrzehnten durch die Mobilfunkdebatte frisst. Anzunehmen ist, dass an dem Schriftsatz noch mehr faul ist. Die Rechtsbeistände der Beklagten werden das Papier sicherlich aufmerksam lesen und entgegnen ...

Hinweis: Aus formaljuristischen Gründen beantragten die Kläger am 17. April 2024 eine Änderung an ihrem Hauptschriftsatz. Mehr dazu hier.

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Jedes komplexe Problem hat eine Lösung, die einfach, naheliegend, plausibel – und falsch ist.
– Frei nach Henry Louis Mencken (1880–1956) –


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