Sabine Hossenfelder: »Wissenschaft ist keine Demokratie« (Forschung)

H. Lamarr @, München, Sonntag, 26.03.2023, 22:33 (vor 415 Tagen) @ H. Lamarr

Vickers ist zuversichtlich: "Niemand weiß wirklich, wann wir einen wissenschaftlichen Verdacht als Tatsache betrachten dürfen, aber wenn wir in einer Streitfrage auf eine 95-prozentige Übereinstimmung in der Wissenschaft verweisen können, dann kann man sicherlich ein Urteil darüber fällen."

Klingt plausibel und vielversprechend.

Doch Friedrich Schiller (1759 – 1805) hält dagegen: "Man soll die Stimmen wägen und nicht zählen; Der Staat muss untergehen, früh oder spät, wo Mehrheit siegt und Unverstand entscheidet."

Die gegenwärtig medienpräsente Physikerin Sabine Hossenfelder (z.B. »Zehn Kilogramm Masse reichen, um ein Universum zu erzeugen«) hält es nicht mit Vickers, sondern mit Schiller. Auf Twitter schreibt sie zu Vickers Vorhaben, wissenschaftliche Streitfragen durch groß angelegte Mehrheitsentscheidungen der wissenschaftlichen Gemeinschaft zu klären:

Sabine Hossenfelder: Das ist eine schlechte Idee. Wissenschaft ist keine Demokratie. Je mehr Wissenschaftler jemand zu einem Thema befragt, desto weniger von ihnen werden das Thema tatsächlich verstehen. Sammeln Sie Argumente, keine Meinungen.

Vielleicht sollte ich eine Erklärung hinzufügen, warum ich so denke. Das Problem ist, dass die Menschen die falschen Schlüsse aus diesen Zahlen ziehen. Sie interpretieren sie als Wahrscheinlichkeit, dass eine "Aussage" richtig oder falsch ist, und berücksichtigen dabei nicht die Wahrscheinlichkeit, dass [auch] Wissenschaftler manchmal falsch liegen.

Wenn Sie wissen wollen, wie hoch die Wahrscheinlichkeit ist, dass der Klimawandel vom Menschen verursacht wird, führen Sie eine Datenanalyse durch. Sie befragen keine Wissenschaftler. Aber wenn 3 % der Wissenschaftler in einer Umfrage sagen, dass sie nicht glauben, dass der Klimawandel vom Menschen verursacht wird, dann besteht das Risiko, dass die Menschen glauben, die Wahrscheinlichkeit, dass diese Meinung zutreffend sei, liege bei 3 %.

In der Wissenschaft gibt es immer Leute, die an liebgewonnenen Überzeugungen festhalten und sich nicht die Mühe machen, über neue Daten/Ergebnisse/Argumente nachzudenken, weil diese möglicherweise dem widersprechen, was sie einmal behauptet haben. Wenn Sie sich auf Umfragen verlassen, müssen Sie all diese sozialen und psychologischen Probleme berücksichtigen.

Kareem Carr (Datenforscher) meint dazu: Ich denke, dass es richtig ist, zu versuchen, den Konsens herauszufinden, aber eine Abstimmung ist nicht der richtige Weg. Ich würde stattdessen eine Meta-Analyse der verfügbaren Studien oder eine Literaturübersicht über die relevanten Peer-Review-Artikel durchführen.

Sabine Hossenfelder: Ja, das wäre der wissenschaftliche Ansatz. Sammeln Sie Argumente, finden Sie heraus, ob jemand etwas daran auszusetzen hat. Folgen Sie der Logik bis zum Ende. Dafür könnten wir wirklich ein Institut brauchen. Oder vielleicht können wir eine KI dazu bringen, das zu tun ...

Ed McLaughlin (Privatperson) wirft ein: Können Sie über das Geheimnis der Wissenschaft sprechen? Die traurige Tatsache, dass die meisten Forschungsprojekte durch Zuschüsse finanziert werden und die Zuschussgeber ein bestimmtes Ergebnis für die von ihnen finanzierte Forschung erwarten? Das bringt die Forscher in die Bredouille. Will ich Wissenschaft betreiben oder meine Familie ernähren?

Sabine Hossenfelder: Ich bin seit mehr als 20 Jahren in der Forschung tätig und habe noch nie einen Geldgeber getroffen, der ein bestimmtes Ergebnis erwartete. Was sie wollen, sind Berichte über das Ergebnis, aber kein bestimmtes Ergebnis.

Francesco Tassinari (an die Physik ausgeliehener Chemiker) ist eher auf Vickers Seite: Hören Sie bitte auf zu sagen, Wissenschaft sei nicht demokratisch. Das ist keine gute Art, sowohl über Wissenschaft als auch über Demokratie nachzudenken.

Sabine Hossenfelder kämpferisch: Es stimmt aber und deshalb werde ich es weiterhin sagen.

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Jedes komplexe Problem hat eine Lösung, die einfach, naheliegend, plausibel – und falsch ist.
– Frei nach Henry Louis Mencken (1880–1956) –

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