Schweiz: Wie 5G voraussichtlich entfesselt wird (I) (Technik)

H. Lamarr @, München, Sonntag, 03.12.2023, 19:13 (vor 308 Tagen)

Nachdem der Schweizer Nationalrat die Motion 20.3237 mit großer Mehrheit angenommen hat, herrscht Rätselraten, wie 5G in dem Alpenstaat entfesselt werden soll, ohne die strengen Anlagegrenzwerte zu lockern. Dabei liegt schon seit 15. November 2019 ein Arbeitspapier vor, das für die Quadratur des Kreises konkrete Lösungsvorschläge macht.

Ausgetüftelt hat das Arbeitspapier das Schweizer Forschungs- und Beratungsunternehmen Infras im Auftrag der Konferenz der Vorsteher der Umweltschutzämter der Schweiz (KVU), die ihrerseits von der Bau-, Planungs- und Umweltdirektoren-Konferenz (Bpuk) beauftragt wurde. Angestoßen wurde das Projekt «Prüfung von Vereinfachungen für das Bewilligungsverfahren Mobilfunk» (PDF, 58 Seiten) im Sommer 2018, als absehbar wurde, dass ohne Vereinfachung der bestehenden Vollzugsabläufe bei der Einführung von 5G ein deutlich erhöhter personeller Ressourcenbedarf bestehen wird.

Realitätsnahe Berechnung der EMF-Immission

Von Infras wurden interessante Ansätze identifiziert, aber es wurde auch festgestellt, dass der Handlungsspielraum häufig klein ist, begrenzt durch Umwelt‐ und Baurecht, Rechtsprechung und aktuell auch durch die kritische Haltung der Bevölkerung gegenüber der Einführung von 5G. Maßnahmen, die den Aufwand für die Vollzugsbehörden deutlich vermindern gibt es kaum, doch es gibt mehrere technische Maßnahmen, die gut umsetzbar sind. Eine davon ist die realitätsnähere Berechnung (Prognose) der EMF-Immission im Umfeld von Mobilfunkbasisstationen.

Bislang ist es so, dass die für Orte mit empfindlicher Nutzung (Omen) durchgeführte Berechnung der zu erwartenden EMF-Immission darüber entscheidet, ob nach Errichtung eines neuen Mobilfunkstandorts die Behörden eine "Abnahmemessung" binnen drei Monaten nach Inbetriebnahme anordnen. Dies ist in aller Regel der Fall, wenn die Prognose eine Ausschöpfung des Anlagegrenzwerts von 80 Prozent oder mehr ergibt.

Positive und negative Einwirkgrößen berücksichtigen

Handlungsspielraum zugunsten der Mobilfunknetzbetreiber entsteht bei dieser Prozedur dadurch, dass die derzeit noch konservative Berechnung der EMF-Immission häufig zu hohe Immissionen ergibt. Dies hat zur Folge, dass die Netzbetreiber ihre Sendeanlagen nicht bis zum Anlagegrenzwert auslasten können und dadurch dringend benötigte Übertragungskapazität brach liegt. Eine realitätsnähere Berechnung würde die bislang ungenutzte Sendeleistungslücke zum tatsächlichen Erreichen des Anlagegrenzwerts schließen. Doch es gibt einen Pferdefuß: Denn eine realitätsnähere Berechnung kann situationsabhängig auch dazu führen, dass bislang nicht beachtete Einflussgrößen (z.B. Signalreflexionen) in Gegenrichtung wirken. Statt einer Anhebung der Sendeleistung wäre dann eine Drosselung erforderlich, damit der Anlagegrenzwert zuverlässig eingehalten wird.

Folgen einer realitätsnahen Berechnung

Kommt die realitätsnähere Berechnung der EMF-Immission im Umfeld von Mobilfunkbasisstationen in der oben skizzierten Form zum Tragen, die positive und negative Einflussgrößen berücksichtigt, kann sie somit landesweit folgende drei Wirkungen bei allen vorhandenen Mobilfunkstandorten entfalten:

► Moderate Erhöhung der EMF-Immission.
► Gleichbleibende EMF-Immission (wenn sich Einflussgrößen gegenseitig aufheben).
► Moderate Reduzierung der EMF-Immission.

Organisierte Mobilfunkgegner werden wegen der ersten Option voraussichtlich mit allen Mitteln der Desinformation versuchen, die Bevölkerung gegen die realitätsnähere Berechnung der EMF-Immission zu mobilisieren. Beispielsweise, indem die beiden anderen Optionen verschwiegen werden und die von Fall zu Fall mögliche moderat höhere Immission dramatisiert und verallgemeinert wird. Ob dies verfängt bleibt abzuwarten. Da de-facto schlimmstenfalls nur stille Reserven genutzt werden und die Anlagegrenzwerte weiterhin nicht überschritten werden, sehe ich für Mobilfunkgegner keine Erfolgschancen, die über die Echokammern der Szene hinausgehen.

Weiter mit Teil II

Hintergrund
FDP fordert Regierung auf, Weg für 5G frei zu geben

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Jedes komplexe Problem hat eine Lösung, die einfach, naheliegend, plausibel – und falsch ist.
– Frei nach Henry Louis Mencken (1880–1956) –

Schweiz: Wie 5G voraussichtlich entfesselt wird (II)

H. Lamarr @, München, Sonntag, 03.12.2023, 19:54 (vor 308 Tagen) @ H. Lamarr

Hier geht es jetzt um die konkreten technischen Vorschläge von Infras zur realitätsnäheren Berechnung der EMF-Immission von Mobilfunkbasisstationen, wie sie in dem Arbeitspapier ab Seite 27 genannt werden. Der folgende Auszug (kursiv) beschränkt sich im Wesentlichen auf die Technik. Im Original werden zusätzlich die Auswirkungen der technischen Vorschläge auf die beteiligten Akteure detaillierter diskutiert.

5. Durch realistischere Feldstärkeberechnungen Abnahmemessungen reduzieren

Diese Stossrichtung zielt darauf ab, die Berechnungen zuverlässiger und realistischer zu machen, so dass nur noch an den wirklich kritischen Punkten gemessen wird. Allenfalls könnte auf Abnahmemessungen sogar ganz verzichtet werden. Dies, weil die Messungen, mit denen die – dann zuverlässigeren ‐ Berechnungen überprüft werden, ihrerseits mit einer relativ grossen Messunsicherheit von bis zu ±40 Prozent behaftet und somit auch nicht sehr präzise sind. Zudem ist zu berücksichtigen, dass Anwohnende gemäss USG diese behördlich verlangten Abnahmemessungen dulden müssen, obwohl sie nicht Verursacher der Strahlungsbelastung, sondern Betroffene sind. Auch aus diesem Grund sollten Abnahmemessungen auf ein notwendiges Minimum beschränkt, und nur mit Einverständnis der Bewohnenden des Messortes durchgeführt werden.

5.1. Ausgangslage und Problembeschreibung

Häufig weicht die Feldstärke, die bei einer Abnahmemessung an einem OMEN ermittelt wurde, deutlich vom rechnerisch prognostizierten Wert ab. Solche Abweichungen sind u.a. auf folgende Gründe zurückzuführen:

► Für die rechnerische Prognose der Strahlenbelastung an den OMEN werden die in der Vollzugshilfe aufgeführten Gebäudedämpfungswerte (BUWAL 2002, S. 25) verwendet, die eher (zu) konservativ sind. Auch werden abschattende Elemente oft nicht in die Berechnungen einbezogen. Dies kann zu einer deutlichen rechnerischen Überschätzung der Feldstärke am OMEN führen.

► Die maximal anrechenbare Antennendämpfung [In der Literatur auch "Richtungsabschwächung" oder "Richtungsdämpfung" genannt; Anm. Postingautor] von 15 dB entspricht – z.B. direkt unter der Antenne – nicht der realen Antennendämpfung. Dies kann, je nach Lage des OMEN relativ zur Antenne, ebenfalls zu einer deutlichen rechnerischen Überschätzung der Feldstärke am OMEN führen.

► Die rechnerische Prognose geht von einer Freiraumausbreitung ohne Beugungen und Reflexionen aus. In der Realität können Reflexionen, z. B. an Hausfassaden oder Dächern aber einen grossen Einfluss auf die Feldstärke am OMEN haben, und gemessene Werte können deutlich über den berechneten Feldstärken liegen.

► Sind die Orte zur Messung festgelegt, müssen gemäss USG die Anwohnenden diese behördlich verlangte Abnahmemessungen dulden. Da sie aber nicht Verursacher der Strahlungsbelastung, sondern Betroffene sind, sollten Abnahmemessungen auf ein notwendiges Minimum beschränkt bleiben. Insbesondere scheint es, trotz anderslautender Einschätzung des BAFU, unverhältnismässig, Messverweigerer/Innen mittels zeitaufwändiger Telefonate, eingeschriebenen Briefen oder sogar mit Androhung eines Polizeiaufgebots umzustimmen. Dies wiederum unter Berücksichtigung der Tatsache, dass die Messungen, die zur Überprüfung der berechneten Feldstärken am OMEN dienen sollen, selbst mit einer relativ grossen Messunsicherheit behaftet sind und sogar gemessene Feldstärken über dem AGW immer weit unter dem eigentlichen Schutzwert, also im Vorsorgebereich liegen würden.

5.2. Vereinfachungsvorschläge und Auswirkungen auf die Akteure

Mit den folgenden Vorschlägen sollen die Berechnungen realistischer gemacht werden, so dass Abnahmemessungen auf die tatsächlich kritischen OMEN reduziert werden können. Dadurch sinkt bei den NIS‐Fachstellen der Aufwand für die Vorarbeiten zu den Abnahmemessungen und die später nachfolgende Kontrolle der Messberichte. Ausserdem wird vorgeschlagen, dass Anwohnende nicht zur Duldung einer Messung gezwungen werden sollen.

5.2.1. Strahlenbelastung an OMEN realistischer berechnen (B1)
► Vorschlag 1: Für die die Berechnung der Strahlenbelastung werden die realen Antennendiagramme oder zumindest höhere maximal anrechenbare Antennendämpfungen verwendet. Insbesondere direkt unter der Anlage würden so realistischere Feldstärken berechnet werden, als dies derzeit der Fall ist.

► Vorschlag 2: Abschattende Elemente wie z.B. Gebäudedächer aus Beton werden in die Berechnungen mit einbezogen. Liegt der Modellierung ein 3D‐Modell zugrunde, können auch Reflexionen an grossen Flächen berücksichtigt werden (analog zu Lärmmodellierungen). Hierdurch können die Abnahmemessungen auf die tatsächlich kritischen OMEN reduziert werden.
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Hintergrund
Mehr über die Richtungsabschwächung einer Antenne erfährt man z.B. in diesem Dokument

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– Frei nach Henry Louis Mencken (1880–1956) –

Richtungsabschwächung vor Gericht

H. Lamarr @, München, Sonntag, 03.12.2023, 20:33 (vor 308 Tagen) @ H. Lamarr

► Vorschlag 1: Für die die Berechnung der Strahlenbelastung werden die realen Antennendiagramme oder zumindest höhere maximal anrechenbare Antennendämpfungen verwendet. Insbesondere direkt unter der Anlage würden so realistischere Feldstärken berechnet werden, als dies derzeit der Fall ist.

Dass sich auch am Wert einer Richtungsabschwächung (irrationaler) Streit entzünden kann, belegt das Urteil VB.2021.00710, das am 5. Mai 2022 zulasten der Beschwerdeführenden vom Verwaltungsgericht des Kantons Zürich erging (Auszug):

[...] Die Beschwerdeführenden rügen sodann eine ungenügende Feststellung des Sachverhalts. Die horizontale Richtungsabschwächung sei für den Strahl B nicht exakt herauszulesen. Dies habe zu erheblichen Differenzen zwischen der Berechnung der Vorinstanz und derjenigen der privaten Beschwerdegegnerin 1 geführt, was deutlich mache, dass aufgrund der Akten eine exakte Berechnung der Strahlenbelastung an OMEN 6 nicht möglich sei. Die horizontale Richtungsabschwächung sei daher ungenügend festgestellt.

5.2 Die Vorinstanz hat für die horizontale Richtungsabschwächung (welche von den Beschwerdeführenden unberücksichtigt blieb) einen Dämpfungsfaktor von 1,3 dB aus den Diagrammen des Standortdatenblatts herausgelesen. Bei der Berechnung der Anlagegrenzwerte hat sich die Vorinstanz aber im Übrigen (im Gegensatz zur privaten Beschwerdegegnerin 1) auf die Werte der Beschwerdeführenden gestützt, um darzulegen, dass die Anlagegrenzwerte bereits mit der Berücksichtigung der horizontalen Richtungsabschwächung eingehalten seien. Sodann legte die private Beschwerdegegnerin 1 mit ihren eigenen Werten, welche zum Teil von denjenigen der Beschwerdeführenden abweichen, dar, dass auch am OMEN 6 die Anlagegrenzwerte eingehalten sind. Sie ging dabei von einer horizontalen Richtungsabschwächung von 1,1 dB aus. Die Differenz von 0,2 dB zum Wert der Vorinstanz ergibt sich dadurch, dass die Vorinstanz lediglich das ausgedruckte Diagramm der horizontalen Richtungsabschwächung zur Verfügung hatte und sich bei der Messung aus diesem Diagramm kleine Messungenauigkeiten ergeben können. Die Richtungsabschwächung in dB kann anhand des Diagramms abgelesen werden, welchem der Diagrammlinie bis zum entsprechenden Winkel gefolgt wird, indem der OMEN von der Hauptstrahlrichtung abweicht. Dass dabei kleine Messungenauigkeiten entstehen können, ändert aber nichts daran, dass die horizontale Richtungsabschwächung aus dem Diagramm abgelesen werden kann, wenngleich auch für das Gericht und allfällige Beschwerdeführende mit kleinen Messungenauigkeiten, da das ausgedruckte Diagramm entsprechend klein ist. Da die Anlagegrenzwerte auch mit dieser kleinen Messungenauigkeit eingehalten sind, ebenso wie auch mit den weiteren von den Beschwerdeführenden vorgebrachten Werten, erweist sich der rechtserhebliche Sachverhalt als rechtsgenügend ermittelt. [...]

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