Klaus Buchner über Missachtung der Vorsorge bei EMF-Grenzwerten (Allgemein)

H. Lamarr @, München, Samstag, 19.12.2020, 22:35 (vor 1420 Tagen)

Die beiden vorangegangenen Faktenchecks anlässlich von Behauptungen Klaus Buchners in einem Video gingen für den ÖDP-Politiker nicht gut aus. Schwierig war die Widerlegung allerdings nicht. Dies sollte sich beim dritten Faktencheck ändern. Der Mathematikprofessor i.R. beschuldigt in seinem Video die deutsche Bundesregierung des Verfassungsbruchs, weil die hierzulande geltenden Immissionsgrenzwerte für Mobilfunk das Vorsorgeprinzip missachten würden. Die Nuss, die mir Buchner damit zum Knacken reichte, erwies sich härter als gedacht.

In seinem Video sagt Buchner an Minute 5:55:

[...] Später dann gab es eine große Anfrage der CDU/CSU-Fraktion im Bundestag wegen möglicher Schäden durch Mobilfunk und die Bundesregierung antwortete 2002, also vor fast 20 Jahren, es würde das Vorsorgeprinzip bei unseren Grenzwerten nicht berücksichtigt. Sie geben damit einen klaren Verfassungsbruch zu. [...]

Da die Quellenangaben Buchners diesmal ausreichend waren, ließ sich die Antwort der Bundesregierung auf die besagte große Anfrage der CDU/CSU-Fraktion im Informationssystem des Deutschen Bundestages mühelos finden. Es handelt sich um die 20-seitige Drucksache 14/7958 vom 4. Januar 2002. Jetzt wurde es spannend: Hat Buchner die Bundesregierung korrekt zitiert oder wieder etwas hinzu gemogelt?

Auf der Suche nach der fraglichen Aussage stieß ich zunächst auf ein klares Bekenntnis der Regierung zum Vorsorgeprinzip und auf allerlei Maßnahmen, mit denen das Bundeskabinett das Risiko Mobilfunk aus dem Nebel besorgter Verdächtigungen holen wollte. Das alles hat Buchner weggelassen, er pickte sich lediglich die eine Passage heraus, die seiner Polemik gegen Mobilfunk am besten dienlich ist. Schwamm drüber, an seiner Stelle hätte ich es vermutlich ebenso gemacht.

Auf Seite 18 dann die Überraschung!

Mit der 34. von 43 Fragen wollten die Fraktionäre der CDU/CSU wissen:

Berücksichtigen die derzeit gesetzlich festgelegten Strahlenschutzgrenzwerte und das bestehende Verfahren zur Erteilung einer Standortbescheinigung in ausreichender Weise das Vorsorgeprinzip?

Und die Antwort der Bundesregierung ließ mich schaudern:

Die o. g. Bewertungen der SSK stimmen mit den Einschätzungen internationaler wissenschaftlicher Expertengremien überein. Bei der Ableitung der geltenden Grenzwerte, die die Grundlage der Standortbescheinigung bilden, hat das Vorsorgeprinzip keine Berücksichtigung gefunden.

Diesmal hat er mich, war mein erster Gedanke, denn Buchner hat offenkundig in dieser Episode seines Videos die Quelle korrekt zitiert. Wer hätte das gedacht ...

Doch nachdem sich meine Schreckstarre etwas gelöst hatte, kamen mir leise Zweifel. Wieso drückt der Antwortgeber, der natürlich nicht in der Bundesregierung sitzt, sondern in einer Fachbehörde, wahrscheinlich beim Bundesamt für Strahlenschutz, sich so umständlich aus und sagt es nicht so schön klar und einfach wie Buchner? Mag sein, dass schon die unnötig komplizierte Frage, in die das Verfahren der Standortbescheinigung eingewoben wurde, die kompliziert wirkende Antwort provoziert hat. Aber was will der Antwortgeber uns mit dem kryptischen Hinweis auf die "Ableitung der geltenden Grenzwerte" sagen?

Grübel, grübel ...

Bingo, das isses!

Der Antwortgeber will uns sagen, den Mobilfunk-Grenzwert schlechthin gibt es so nicht, denn wer sich mit den Grenzwerten beschäftigt hat, weiß: Es gibt laut Icnirp die maßgebenden Basisgrenzwerte. Und weil diese äußerst schwierig zu messen sind, gibt es, – jetzt kommt das Zauberwort, – zusätzlich die abgeleiteten Referenzwerte, die sich sehr einfach messen lassen und landläufig als Grenzwerte bezeichnet werden. Details zu den Basisgrenzwerten und den Referenzwerten lassen sich in den auch für Laien verständlichen Icnirp-Empfehlungen von 1998 nachlesen.

Und was hilft uns das jetzt weiter?

Es hilft, Buchners Vorwurf zu widerlegen, "bei unseren Grenzwerten" sei das Vorsorgeprinzip nicht berücksichtigt worden. Diese Behauptung ist falsch, denn in unseren Grenzwerten steckt sehr wohl das Vorsorgeprinzip drin. Auch in den Referenzwerten, nicht aber in deren Ableitung von den Basisgrenzwerten.

Es ist ganz einfach: Icnirp hat in die Basisgrenzwerte vorsorglich schon Sicherheitsfaktoren eingebaut. Gesicherte biologische und gesundheitliche Wirkungen sind zu erwarten, wenn ein Organismus dem Funkfeld mehr als 4 W/kg gewichtsbezogene Leistung entzieht (Kerntemperatur des Körpers steigt um mehr als 1 °C). Also empfiehlt Icnirp für berufliche Exposition den Sicherheitsfaktor 10 (max. 0,4 W/kg) und zusätzlich für die Bevölkerung den Sicherheitsfaktor 5, was zusammen den Sicherheitsfaktor 50 für die Bevölkerung ergibt (max. 0,08 W/kg). Dieser Faktor ist üppig bemessen. Beispielsweise im Maschinenbau beträgt der Sicherheitsfaktor üblicherweise 1,5 bis 2, mechanische Belastungen durch Erdbeben werden mit Faktor 1,2 berücksichtigt und bei extrem sicherheitsrelevanten Bauteilen wie Aufzugsseile rechnet man mit Sicherheitsfaktor 10.

Dieser Sicherheitsfaktor 50 geht bei der Ableitung der Referenzwerte nicht etwa verloren, er wird sogar noch größer, da die Referenzwerte so bemessen sind, dass die Basisgrenzwerte selbst unter ungünstigsten Bedingungen eingehalten werden. Dies kann in seltenen Fällen dazu führen, dass ein Referenzwert sogar überschritten wird, ohne dass es zur Überschreitung der Basisgrenzwerte kommt. Und weil der Sicherheitsfaktor von mindestens 50 per se in die Referenzwerte mit übernommen wird, darf bei der Ableitung der Referenzwerte das Vorsorgeprinzip getrost unberücksichtigt bleiben. Würde man es anwenden, wäre das eine Dopplung der Vorsorge und der ohnehin schon große Sicherheitsfaktor würde noch größer.

Die Antwort der Bundesregierung ist damit völlig korrekt, vorausgesetzt sie wird richtig interpretiert. Ob die Formulierung absichtlich missverständlich formuliert wurde, um unbedarfte Mobilfunkgegner aufs Glatteis zu führen, ist nicht überliefert.

Klaus Buchner verfälscht mit seiner populistischen Verkürzung der Originalantwort den Informationsgehalt zu seinem Vorteil, indem er wichtige Details weg lässt und zwei falsche Schlüsse aus seiner verkürzten Version zieht. Ob der Mathematiker seine Quelle in Unkenntnis der Zusammenhänge verkürzt hat oder absichtlich, kann ich nicht sagen. Fakt ist, der ÖDP-Politiker hat beim Bundesverfassungsgericht gegen den von ihm befundenen Verfassungsbruch durch die Bundesregierung des Jahres 2002 keine Beschwerde eingelegt.

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Jedes komplexe Problem hat eine Lösung, die einfach, naheliegend, plausibel – und falsch ist.
– Frei nach Henry Louis Mencken (1880–1956) –

Tags:
Falschmeldung, Buchner, ÖDP, Populismus, Faktencheck, Bundesregierung, Vorsorgeprinzip, Immissionsgrenzwerte, Narrativ, Referenzwert, Vorsorgekomponente, Pseudo-Experte

Bernd I. Budzinski über die Missachtung der Vorsorge ...

H. Lamarr @, München, Sonntag, 18.04.2021, 00:52 (vor 1301 Tagen) @ H. Lamarr

[...] Später dann gab es eine große Anfrage der CDU/CSU-Fraktion im Bundestag wegen möglicher Schäden durch Mobilfunk und die Bundesregierung antwortete 2002, also vor fast 20 Jahren, es würde das Vorsorgeprinzip bei unseren Grenzwerten nicht berücksichtigt. Sie geben damit einen klaren Verfassungsbruch zu. [...]

Da die Quellenangaben Buchners diesmal ausreichend waren, ließ sich die Antwort der Bundesregierung auf die besagte große Anfrage der CDU/CSU-Fraktion im Informationssystem des Deutschen Bundestages mühelos finden. Es handelt sich um die 20-seitige Drucksache 14/7958 vom 4. Januar 2002.
[...]

Die Antwort der Bundesregierung ist damit völlig korrekt, vorausgesetzt sie wird richtig interpretiert. Ob die Formulierung absichtlich missverständlich formuliert wurde, um unbedarfte Mobilfunkgegner aufs Glatteis zu führen, ist nicht überliefert.

Klaus Buchner verfälscht mit seiner populistischen Verkürzung der Originalantwort den Informationsgehalt zu seinem Vorteil, indem er wichtige Details weg lässt und zwei falsche Schlüsse aus seiner verkürzten Version zieht. Ob der Mathematiker seine Quelle in Unkenntnis der Zusammenhänge verkürzt hat oder absichtlich, kann ich nicht sagen. Fakt ist, der ÖDP-Politiker hat beim Bundesverfassungsgericht gegen den von ihm befundenen Verfassungsbruch durch die Bundesregierung des Jahres 2002 keine Beschwerde eingelegt.

Eines der großen Probleme der Anti-Mobilfunk-Szene ist: Einige ihrer Referenten stellen äußerst geringe Ansprüche an ihre Quellen. Was gefällt und saftig ist, kupfern sie ungeprüft von Gesinnungsgenossen ab. Dies führt dazu, dass sich auch falsche Behauptungen verbreiten und sich durch die Szene ziehen wie Fettadern durch ein Porterhouse-Steak.

[image]Bild: fernsehserien.de

So stieß ich heute zufällig erneut auf die falsche Behauptung, die Bundesregierung habe bereits 2002 fehlende Vorsorge (bei den Mobilfunkgrenzwerten) ausdrücklich eingeräumt. Diesmal jedoch nicht bei Buchner, sondern bei dem Verwaltungsrichter im Ruhestand Bernd Irmfried Budzinski. Im Brustton der Überzeugung trägt er die gleiche unqualifizierte Interpretation der Auskunft der Bundesregierung vor wie Buchner. Geschehen im Oktober 2019 anlässlich seines Vortrags auf dem Symposium "Biologische Wirkungen des Mobilfunks", das von der sogenannten Kompetenzinitiative in Mainz veranstaltet wurde, sinnigerweise in derselben Lokalität, wo sich Jahr für Jahr Narren zu ihrer Prunksitzung "Mainz bleibt Mainz, wie es singt und lacht" versammeln. Zu finden ist das Video mit Budzinskis Desinformation auf dieser Webseite ziemlich weit unten, besagte Stelle beginnt bei Minute 8:05. Die schlechte Tonqualität passt vorzüglich zur Qualität des Vortrags.

Von der Chronologie her ist Budzinskis Auftritt älter als der von Buchner. Mutmaßlich ist der Ex-Verwaltungsrichter daher Urheber der Desinformation und Buchner, der in Mainz ebenfalls zugegen war, hat bei ihm abgekupfert. Budzinski hat keine Ahnung von Mobilfunktechnik, was in seinen "technischen" Ausführungen auch regelmäßig deutlich wird. Die Auskunft der Bundesregierung richtig zu interpretieren ist für den gegen Mobilfunk voreingenommen Juristen daher eine nicht zu nehmende Hürde. Buchner aber ist studierter Physiker. Bei ihm muss etwas anderes versagt haben.

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– Frei nach Henry Louis Mencken (1880–1956) –

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