Klaus Buchner über die Bestrahlung der US-Botschaft in Moskau (Allgemein)
Ein unscharfes Video von und mit Klaus Buchner ist eine Fundgrube. Über das, was der Mathematik-Professor im Ruhestand darin zu einem mysteriösen Bienensterben auf der Isle of Wight sagt, gibt dieser Strang Auskunft. Die nächste Fundstelle handelt davon, was Buchner über die Folgen der Mikrowellenbestrahlung der US-Botschaft in Moskau zu Wissen glaubt. Auch diese Quellen-Recherche lässt den Ex-Europaabgeordneten der ÖDP nicht gut aussehen, und mit ihm Jörn Gutbier (Diagnose-Funk) sowie Ex-Tabaklobbyist Franz Adlkofer.
Das Corpus Delicti, also das besagte Video, lässt sich hier abrufen. Ab Minute 4:09 schildert Klaus Buchner eine weithin unbekannte Anekdote, in der Henry Kissinger, US-Außenminister von 1973 bis 1977, und die Mikrowellenbestrahlung der US-Botschaft in Moskau durch die Sowjets die Hauptrolle spielen. Buchner erzählt:
[...] Aber die Russen haben schon gemerkt, dass hier auch militärisch es interessant sein kann, die Folgen der Mobilfunkstrahlung zu studieren. Sie haben ein großes Experiment gemacht, sie haben vom Ende der 1950er-Jahre fast 20 Jahre lang die US-Botschaft in Moskau bestrahlt. Mit ganz fürchterlichen Folgen. Und ich lese aus einem Telegramm vor, dass der damalige Außenminister Kissinger an die Angehörigen der Moskauer-Botschaft geschickt hat. Kissinger schreibt: Die Wirkungen, die die Sowjets beim Botschaftspersonal erreichen wollten, schlossen Unwohlsein, Reizbarkeit und starke Müdigkeit mit ein. Die Sowjets glaubten, dass diese Wirkungen vorübergehend sein würden. In der Zwischenzeit würde jedoch zweifelsfrei nachgewiesen, dass sie nicht vorübergehend sind. Definitiv stehen mit der Strahlung im Zusammenhang a) Katarakte, zu deutsch grauer Star, b) Blutbildveränderungen, c) maligne Tumoren d) Kreislaufprobleme und e) Funktionsstörungen des Nervensystems. In den meisten Fällen treten diese Nachwirkungen erst lange nach der Exposition auf. Nämlich zehn oder mehrere Jahre später. Soweit das Telegramm von Kissinger. [...]
Die gezielte Bestrahlung der US-Botschaft in Moskau von 1953 bis 1976 mit Funkwellen im Frequenzbereich 2,5 GHz bis 4 GHz gehört seit der Jungsteinzeit der Anti-Mobilfunk-Szene zu deren Lieblingsgeschichten, denn angeblich wurde das Botschaftspersonal unter der Einwirkung von 50 mW/m² bis 150 mW/m² krank. Der US-Wissenschaftler Abraham Lilienfeld untersuchte den Fall ab 1976 retrospektiv. Seine entwarnenden Studienresultate wurden vielfach kommentiert und interpretiert, wie J. Mark Elwood 2012 in einer Review darlegt, in aller Regel falsch.
Ganz sicher falsch ist auch Buchners Eingangsbehauptung, Russen hätten die (gesundheitlichen) Folgen der Mobilfunkstrahlung studieren wollen. Falsch, weil es seinerzeit keinen öffentlichen Mobilfunk gab. Mobilfunkgegner Buchner leistet sich hier einen Freudschen Versprecher, ihm entfährt Mobilfunkstrahlung wo Mikrowellenstrahlung hingehört hätte.
Was mich hellhörig machte, ist das angebliche Telegramm Kissingers, das schon grammatikalisch nicht die authentische Wiedergabe eines (übersetzten) Originaltextes Kissingers sein kann, sondern die Erzählung einer Person, die anderen über den Inhalt des angebliche Telegramms berichtet. Da aber in allen mir bekannten Quellen über das Botschaftsdrama im Kalten Krieg Henry Kissingers Telegramm mit keinem Wort erwähnt wird und Buchner wieder einmal keine Quelle nennt, machte ich mich abermals im www auf die Suche, um der Geschichte auf den Grund zu gehen.
Um es diesmal kurz zu machen: Gefunden habe ich eine wüste Kolportagekette, in die auch Jörn Gutbier und Franz Adlkofer verwickelt sind, und deren Ursprung im Dunkeln liegt.
Dieser Suchbegriff brachte mich auf die Spur von Gutbier (2014) und Adlkofer (2014), die schon fünf Jahre vor Buchner ihren Orks dieselbe Geschichte auftischten und den ÖDP-Politiker 2019 wohl zu seiner Videoepisode inspirierten. Beide berufen sich auf die Quelle: Omega News (2004). Die beiden organisierten Mobilfunkgegner griffen also auf zehn Jahre altes Material zurück.
Für Diagnose-Funk ist Omega News eine "unabhängige Nachrichtenplattform", für mich ist Omega News ein dubioser Kanal zur Verbreitung alternativer Fakten, die Hinz oder Kunz dort beliebig einstellen können. Doch Omega News ist im konkreten Fall nicht die Primärquelle, denn eingestellt wurde die Meldung von einem Unbekannten namens "GILLARROW", der Neugierige an die Webadresse ...
http://www.geocities.com/adrian9999999999/pandora.htm
... weiter komplimentiert. Dort endete meine Reise vorerst, denn diese Website existiert heute nicht mehr. Peinlich für Gutbier und Adlkofer, die Website existierte bereits am 21. April 2013 nicht mehr, war also schon lange vom Netz, als die beiden auf die Sekundärquelle Omega News verlinkten. Glauben Sie nicht? Überzeugen Sie sich selbst im Web-Archiv von der Richtigkeit meiner Behauptung!
Eine ältere Konserve im Web-Archiv aus dem Jahr 2009 zeigt uns schließlich aber doch noch, was Gutbier und Adlkofer später so begeistert hat. Gemäß Web-Archiv gab es diese Seite schon seit 2001, der Diagnose-Funker und der Ex-Tabaklobbyist hinkten damit nicht zehn, sondern sogar 13 Jahre der Zeit hinterher.
Aber: Auch die im Web-Archiv gefundene Website ist nicht die gesuchte Primärquelle, denn dort wird abermals auf eine andere Quelle verlinkt, auf Whistleblower's Switchboard. Wir sind jetzt in der dritten Quellenebene angekommen und das Prozedere erinnert mich an die ineinander geschachtelten russischen Matrjoschka-Puppen. Das Whistleblower's Switchboard ist für mich jedoch Endstation, denn diese Site ist in jeder Hinsicht indiskutabel und mit Sicherheit keine seriöse Quelle. Und es ist nicht zu erwarten, dass weiteres Entschachteln der Kolportagekette dem Sachverhalt noch eine Wendung zum Besseren gibt.
Fazit: Klaus Buchner beruft sich quellenfrei auf eine lediglich im Milieu alternativer Fakten kolportierte Begebenheit, deren Wahrheitsgehalt unbekannt, mit großer Wahrscheinlichkeit jedoch frei erfunden ist. Schon vor ihm griffen Gutbier und Adlkofer zu, beide bedienten sich bei dem schrägen Kanal Omega News, ohne sich die Mühe zu machen, den Wahrheitsgehalt der Begebenheit zu prüfen, bevor sie diese weiter verbreiteten. Die blamable Anspruchslosigkeit der drei Mobilfunkgegner an ihre Quellen erklärt plausibel, warum die Mobilfunkdebatte nicht von der Stelle kommt und offensichtlich dem Selbstzweck maßgebender Teilnehmer aufseiten der Anti-Mobilfunk-Szene dient. Auf der seriösen Site The Office of the Historian ist das kolportierte Kissinger-Telegramm nicht aufzufinden.
Verwandte Forumstränge
► Zur Episode 1 des Videos: Klaus Buchner über das Bienensterben auf der Isle of Wight
► Zur Episode 3 des Videos: Klaus Buchner über Missachtung der Vorsorge bei EMF-Grenzwerten
--
Jedes komplexe Problem hat eine Lösung, die einfach, naheliegend, plausibel – und falsch ist.
– Frei nach Henry Louis Mencken (1880–1956) –