Mobilfunkgegner: Der Prophet von Herrenberg (I) (Allgemein)
Herrenberg (Baden-Württemberg) hat Tirschenreuth (Bayern), Sitz der morbide gewordenen "Bürgerwelle", als Epizentrum des bundesdeutschen Anti-Mobilfunk-Protests abgelöst. Denn in Herrenberg lebt und wirkt Jörn Gutbier, erster Vorstand des Stuttgarter Anti-Mobilfunk-Vereins "Diagnose-Funk". Der Verein verbreitet bundesweit Angst und Schrecken über angebliche gesundheitliche Risiken des Mobilfunks. In Herrenberg sitzt Gutbier als Fraktionschef der "Grünen" im Stadtrat mit am Ruder der Macht. Beste Voraussetzung also, die Stadt in ein Funkloch zu verwandeln. Oder gilt der Prophet zuhause nichts? Der "Dorfreporter" hat Bilanz gezogen.
Jörn Gutbier, 52, ist gelernter Architekt, im Nebenerwerb betätigt er sich als sogenannter Baubiologe. Gemeinsam mit dem ehemaligen Drucker Peter Hensinger, 71, bildet er das Sprachrohr des Vereins Diagnose-Funk. Verzweifelte Sendemast-Bürgerinitiativen im ganzen Land rufen mal den einen, mal den anderen, damit sie ihnen in Turnhallen oder im Tanzsaal von Wirtshäusern erklären, warum sie Angst vor stählernen Mobilfunkantennen haben müssen, und warum es Bürgerpflicht ist, Kinder unter allen Umständen in Schulen vor WLAN-Strahlung zu bewahren. Gutbier ist die Speerspitze im Kampf gegen alles was Funkwellen verströmt, selbst völlig harmlose batteriegespeiste Funkwasserzähler finden bei dem gebürtigen Lüneburger keine Gnade.
Nach dieser Ouvertüre ist zu erwarten: Herrenberg muss eine Trutzburg des Widerstands gegen Funkwellen sein. Der "Dorfreporter" hat sich an Ort und Stelle umgesehen und nach Anzeichen gesucht, wie erfolgreich sich Platzhirsch Gutbier in seinem eigenen Revier durchsetzen konnte.
Zwei Dutzend Sendemasten
Was Leichtathleten der Zehnkampf, ist Mobilfunkgegnern der Kampf um Mobilfunksendemasten. Diese Masten sind die weithin sichtbaren Insignien der Macht der verhassten Netzbetreiber, zuverlässige Quelle für irrationale Ängste vor Elektrosmog und, das ist für Sendemastengegner häufig das Wichtigste, Garant für öffentliches Interesse. Doch wer nun glaubt, die Diagnose-Funk-Hauptstadt sei frei von Sendemasten, der irrt, die große Kreisstadt Herrenberg beherbergt in der Kernstadt und den sieben eingemeindeten Teilorten derzeit insgesamt 24 Standorte für Mobilfunksendeanlagen (2013 sollen es einem Medienbericht zufolge genau halb so viele gewesen sein). Das sind nur zwei Standorte weniger als in Radolfzell am Bodensee. Radolfzell hat 30.780 Einwohner und dient als Vergleichsstadt, weil es in der Liste der größten Städte Baden-Württembergs derzeit gleich hinter Herrenberg (31.250 Einwohner) Platz 55 belegt. Der zugegeben grobe Sendemastenvergleich macht deutlich: Viel hat Herrenberg nicht davon, dass der Anführer organisierter Mobilfunkgegner dort wohnt und rät.
Standorte für Mobilfunksendemasten (blaue Ringe) im Gemeindegebiet von Herrenberg. Die höchste Standortdichte herrscht wie anderswo auch in der Kernstadt.
Kriegsbemalung für Bahnhofsmast
Ein am Rande der historischen Herrenberger Innenstadt am Bahnhof gelegener hässlicher Silo mit vielen Mobilfunkantennen obendrauf verschandelte das Stadt-Panorama. Und den Blick auf die Stiftskirche, Top-Sehenswürdigkeit der Stadt. Deshalb sollten der Silo weg und die Antennen auf einen dezenten neu zu errichtenden Masten umziehen. Doch die "Grünen"-Fraktion mit Jörn Gutbier an der Spitze dramatisierte das Vorhaben und rief das Umweltinstitut München auf den Plan, das dem Namen zum Trotz ein eingetragener Verein ist. Am Ende empfahl der damalige Standortberater des Instituts für mehr als 30.000 Euro Honorar genau den Standort am Bahnhof, den ursprünglich schon der Netzbetreiber selbst vorgesehen hatte. Den Räten der Stadt dürfte dies sauer aufgestoßen sein, schließlich liegt Herrenberg im sparsamen Schwabenland. Zu allem Überfluss forderten die "Grünen" auch noch, den Mast einige Meter höher als geplant zu bauen. Dies sollte der Bevölkerung ein paar Prozent Entlastung an Funkimmission bringen. Um die hitzig diskutierte Kuh endlich vom Eis weg auf den Grill zu bekommen, wurde diese Forderung der "Grünen" im Rat zügig durchgewunken.
Bald darauf war der Mast fertig und versorgte die Bevölkerung mit dem, wofür er errichtet wurde. Trotzdem kam neuer Unmut auf. Denn der ursprünglich unauffällige graue Betonmast bekam oben auf den Extrametern der "Grünen" eine rot-weiß-rote Leuchtturmbemalung und rote Signallampen für die Nacht. Davon wusste vorher niemand etwas. Herrenberg, mit historischer Skyline und geringem Touristenaufkommen, reagiert auf solche Späße recht sensibel. Der Mastbetreiber wusch seine Hände in Unschuld: Wegen dem nahe gelegenen Hubschrauber-Landeplatze des Krankenhauses müsse der höher geratene Mast eben auf diese Weise abgesichert werden. Es sei ja nicht seine Idee gewesen, einen funktechnisch so unnötig hohen Masten am Bahnhof zu errichten ...
Sendemast am Bahnhof von Herrenberg. Die rote Manschette entspricht der Höhenzugabe, die Herrenberg Jörn Gutbier und seinen "Grünen" zu verdanken hat. Im Hintergrund eine Andeutung der historischen Altstadt mit der Stiftskirche, rechts davon das Dekanat.
WLAN in Hülle und Fülle
Obwohl in aller Welt WLAN so ungezwungen genutzt wird wie Spülmittel, erkennt Diagnose-Funk auch darin gesundheitliche Risiken, die nicht abgetan werden dürften. Insbesondere nicht für Kinder und Jugendliche. Das ist die Ansage. Wie steht es also um WLAN in Herrenberg?
Im April 2018 erhielten die letzten Schulen der Stadt WLAN. Dies waren kleine Grundschulen. Die großen und weiterführenden Schulen waren bereits zuvor mit WLAN versorgt worden. Herrenberg ist Träger von zwölf Schulen: Sechs große in der Kernstadt und sechs kleine und kleinste Grundschulen in den Ortsteilen. WLAN war die Krönung einer vom Rat der Stadt ohne jede öffentliche Debatte beschlossenen Aktion, die Schulen der Stadt mit zukunftsfähiger und einheitlicher IT-Infrastruktur für den Unterricht auszustatten. Neben dem Schulträger und den Schulen steht auch der Gesamtelternbeirat hinter dieser Aktion. Lokomotive war ein ehemaliger Elternvertreter mit einschlägiger Kompetenz. Diagnose-Funk konnte den Siegeszug des WLANs an keiner Schule verhindern. VLC (Visible Light Communication, Datenübertragung mit dem Licht von Deckenlampen), eine von Diagnose-Funk propagierte alternative Nischentechnik zu WLAN, sucht man in Herrenberger Schulen vergeblich.
Tablets für die Räte
Ende 2014 musste der Diagnose-Funk-Vorstand knirschend hinnehmen, dass die Stadt Herrenberg ihren Stadträten und Ortsvorstehern Tablets anbot. Nur sieben der 40 Kommunalpolitiker schlugen das Angebot aus, berichtete das Lokalblatt "Gäubote". Die Entscheidung für WLAN fiel mit 17 Ja-Stimmen, sechs Enthaltungen und fünf Nein-Stimmen. Klar, einige Sitzungsräume im Rathaus werden seither mit WLAN versorgt. Den Stadträten steht es frei, ihr eigenes Tablet zu benutzen oder das, das ihnen die Stadtverwaltung zur Verfügung stellt. Die 64 Ortschafträte in den Stadtteilen tagen seltener, deswegen bekommen sie keine Tablets gestellt und müsse die eigenen benutzen. Damit aber die Ortschafträte Zugang zu den Ratsinformationen erhalten, werden demnächst alle Sitzungsräume mit WLAN ausgestattet. Und Gutbier? Er kritisiert, dass für 40.000 Euro nun neue größere Tablets angeschafft werden müssen, die Geräte der ersten Garnitur erwiesen sich als zu klein. Von Funkstrahlung redete er in diesem Zusammenhang nicht, auch nicht von VLC.
Zweckverband
Im Dezember 2018 warb Herrenbergs Oberbürgermeister Thomas Sprißler im Rat für den Beitritt der Stadt zu einem kommunalen Zweckverband zugunsten des Breitbandausbaus im Landkreis. Damit, so hofft er, wird die Deutsche Telekom oder ein anderer Anbieter die vielen weißen Flecken in den sieben Ortsteilen der Stadt zügig erschließen und auf Rosinenpickerei verzichten. Der Zweckverband könne gegenüber der Telekom als Verhandlungspartner in Augenhöhe auftreten, versprach der OB, "die verhandelt nicht mit den 179 Kommunen einzeln.“
Jörn Gutbier hatte mit dem Beschlussantrag hingegen seine liebe Not. Ganz Mobilfunkgegner erkannte er darin eine Parallele zum geplanten Ausbau des 5G-Mobilfunknetzes. Er fürchtet, die Eingriffsmöglichkeiten von Kommunen, "die nicht alle 150 Meter einen Sendemast" haben wollen, würden regulatorisch beschnitten. Wo jetzt Breitbandausbau draufstehe, hänge hinten dran die Totalverstrahlung mit krebserregender und krank machender Mobilfunktechnik. Dieter Haarer (CDU) konterte: "Sie sehen hinter jedem Busch, in dem Technik steckt, die Menschheit untergehen." Am Ende stimmte der Rat mehrheitlich dem Antrag zu, dem Zweckverband beizutreten.
Widerstand gegen Kleinzellen
Nicht nachvollziehbar ist Gutbiers in einer Lokalzeitung an die Wand gemaltes Menetekel, die Telekom müsse künftig wegen erfolgreicher Monopolsicherung niemanden mehr fragen, wollte sie alle 150 Meter 5G-Mobilfunksendeanlagen an Straßenlaternen geschraubt. Eigentlich müsste er darüber jubeln. Ist sein Verein doch glühender Verfechter von Kleinzellennetzen. Wenn eine 5G-Funkzelle nur noch 75 Meter Radius hat, ist dies die Krone der Kleinzelligkeit. Vielleicht sind es Widersprüche wie dieser, die Gutbiers Erfolgsquote als Mobilfunkgegner in seiner Heimatstadt auf Normalnull halten.
Fortsetzung in Teil II