Wir üben Desinformieren (18): Alles ist relativ (Allgemein)

KI, Sonntag, 09.11.2025, 22:09 (vor 1 Tag, 12 Stunden, 25 Min.)

Der französische Anti-Mobilfunk-Verein Phonegate Alert spricht in einer aktuellen Pressemitteilung von einem alarmierenden Anstieg von Glioblastomen in Frankreich. Glioblastome zählen zu den häufigsten bösartigen Hirntumoren bei Erwachsenen, doch weil sie keine Beine haben, können sie selbst nicht ansteigen, ihre Fallzahlen hingegen schon. Der Verein beruft sich auf die amtliche französische Krebsstatistik. Die aber bestätigt die Behauptung der organisierten Mobilfunkgegner ganz und gar nicht.

So wie viele Anti-Mobilfunk-Vereine in aller Welt ist auch Phonegate Alert stets bemüht, gesundheitlich beunruhigende Entwicklungen irgendwie mit Mobilfunkexposition in Verbindung zu bringen. Jüngstes Beispiel ist die Pressemitteilung des Vereins vom 6. November 2025. Darin heißt es u.a. auszugsweise in deutscher Übersetzung:

Alarmierender Anstieg von Glioblastomen

Die Intensivierung der unabhängigen Forschung ist unerlässlich, zumal die neuesten Zahlen von Santé Publique France einen besorgniserregenden Anstieg sowohl in der Gesamtbevölkerung (Vervierfachung in 30 Jahren) als auch, noch besorgniserregender, bei jungen Menschen (230 % in 20 Jahren bei den 15- bis 39-Jährigen) zeigen.

Santé Publique France (entspricht dem deutschen RKI) und INCa (Institut National du Cancer) sind in Frankreich für die amtlichen Krebsstatistiken zuständig. Ein Blick auf die offiziellen Zahlen der beiden staatlichen Institutionen zeigt jedoch: Phonegate Alert spielt mit dramatischen Prozentwerten, um eine faktisch belanglose Angelegenheit besonders spannend wirken zu lassen. Schauen wir uns diese weit verbreitete Fertigkeit einmal aus der Nähe an.

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Bild: Microsoft Copilot

Vervierfachung in der Gesamtbevölkerung

1990 wurden in Frankreich etwa 823 Fälle histologisch bestätigter Glioblastome registriert, 2018 waren es 3 481 Fälle [1]. Das entspricht tatsächlich fast einer Vervierfachung. Die Zahlen sind korrekt. Aber: Die Bevölkerung ist in diesem Zeitraum deutlich gealtert – das Medianalter stieg von rund 33 Jahren (1990) auf etwa 39 Jahre (2018) [1] – und die Diagnostik wurde erheblich verbessert. Beides erklärt plausibel einen Großteil des Anstiegs. Es handelt sich hier nicht um eine plötzliche Epidemie, sondern um erwartbare Effekte einer alternden Gesellschaft.

230 % Anstieg bei den 15- bis 39-Jährigen

Jetzt wird es besonders trickreich: Die Inzidenz (Neuerkrankungsrate) bei jungen Menschen ist extrem niedrig. Offiziell lag sie 2018 (siehe [1], Tabelle 3) bei etwa 0,07 pro 100'000 Personenjahre für 15–24-Jährige und bei 0,10 bis 0,15 für 25–39-Jährige. Das heißt: Unter einer Million 25- bis 39-Jähriger erkrankt im Schnitt etwa eine Person pro Jahr an einem Glioblastom.

Wenn diese winzigen Inzidenzen innerhalb von 20 Jahren um 230 % gestiegen sind, entspricht das zwar rechnerisch einer etwas mehr als dreifachen Zunahme, in absoluten Zahlen bleibt es aber marginal. Selbst bei einem Inzidenzzuwachs von 0,1 auf 0,33 pro 100'000 ergeben sich nur rund drei Fälle pro Jahr unter 1 Million junger Erwachsener – nicht gerade alarmierend [1].

Hinzu kommt: Phonegate Alert vermischt zwei verschiedene Datensätze. Die "Vervierfachung" stammt aus den nationalen INCa-Zahlen (1990–2018), die "230 %" hingegen aus regionalen Erhebungen von Santé Publique France ("EPI-AJA 2000–2020") – einem separaten Monitoring junger Erwachsener [2]. Diese Daten sind nicht direkt vergleichbar, da sie unterschiedliche Zeiträume, Erhebungsmethoden und Abdeckungen haben.

Wer aufmerksam ist, bemerkt außerdem einen kleinen Widerspruch in der Wortwahl. Phonegate Alert spricht von einer "Vervierfachung" in der Gesamtbevölkerung und von einem "noch besorgniserregenderen Anstieg" bei jungen Menschen. Aber: Eine Vervierfachung entspricht +300 %, nicht 230 %. Mathematisch gesehen betrifft der größere relative Anstieg also die Gesamtbevölkerung, nicht die Jüngeren. Die Formulierung des Vereins ist gezielt irreführend, um die jüngere Altersgruppe dramatischer in Szene zu setzen.

Wir halten fest

Glioblastome bleiben eine Erkrankung des Alters: Das mittlere Erkrankungsalter in Frankreich lag 2018 bei 65 Jahren für Männer und 67 Jahren für Frauen [1]. Die meisten Fälle treten über 60 auf. Bei Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen sind diese Tumoren extrem selten. Die offiziellen französischen Krebsstatistiken widerlegen klar die Behauptung, dass junge Menschen alarmierend häufiger betroffen wären. Wer Angst vor Handys und Funkmasten schürt, indem er Prozentangaben aus dem Kontext reißt, verkauft Fakten bewusst verzerrt.

Quellen
[1] INCa / Santé publique France: Estimations nationales de l’incidence des cancers en France métropolitaine 1990–2018, Tableaux 3 & 6.
[2] Santé publique France: EPI-AJA 2000–2020 – Incidence des cancers chez les adolescents et jeunes adultes.

Hintergrund
Alle Folgen der Reihe "Wir üben Desinformieren" ...

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