Neues von Berenis (41): Juli 2025 (Forschung)
Im Zeitraum von Mitte Juli bis Ende Oktober 2024 wurden 114 neue Publikationen identifiziert, von denen fünf von Berenis vertieft diskutiert wurden. Drei davon wurden gemäss den Auswahlkriterien als besonders relevant und somit zur Bewertung ausgewählt und werden im Folgenden vorgestellt. Zusätzlich wird nachträglich eine Studie besprochen, die bereits im Zeitraum von Newsletter 39 erfasst wurde (Tahir et al. 2024). Ungekürzt und mit Literaturangaben gibt es den aktuellen Berenis-Newsletter hier.
Experimentelle Tier- und Zellstudien
Wirkungen von 2.45 GHz HF-EMF auf das Innenohr – eine histopathologische Studie (Tahir et al. 2024)
Die Studie von Tahir et al. (2024) untersucht mögliche funktionelle sowie strukturelle Effekte einer Befeldung von trächtigen Ratten mit einem unmoduliertem 2.45-GHz-Signal auf die Gehörschnecke im Innenohr (Cochlea). Trächtige Ratten wurden für 21 Tage während der Trächtigkeit sowie die Neugeborenen bis 45 Tage nach der Geburt bei 2.45 GHz mit elektrischen Feldern von 0.6, 1.9, 5, 10 und 15 V/m exponiert. Die trächtigen Ratten wurden in einem kreisförmigen Käfig mit einer Antenne in der Mitte exponiert. Es wurden täglich Messungen der elektrischen Feldstärke durchgeführt, um Schwankungen zu erfassen und zu vermeiden. Die Werte im Gewebe wurden durch Computersimulationen entsprechend der dielektrischen Parameter ermittelt. Umgebungsgeräusche wurden vorgängig ermittelt und sollten 50 dB nicht überschreiten, um einen Einfluss auf den Test zu vermeiden.
Reaktionstests zur Hörschwelle (sequentielle Stimuli von 80 dB absteigend um 10 dB) wurden sowohl vor als auch nach der HF-EMF-Exposition gemacht. Nach Entfernung der Cochlea wurden histopathologische Untersuchungen sowie Untersuchungen von Apoptose durchgeführt. Die Resultate zeigen eine dosisabhängige statistisch signifikante Erhöhung der Hörschwelle für Expositionen oberhalb von 5 V/m. Bei den mitgeführten Kontrollen wurden keine Unterschiede der Schwellenwerte gemessen. Die im Hirnstamm induzierten Potentiale stellen eine objektive Messung der Funktion der Hörbahn vom Hörnerv zum Mittelhirn (Mesencephalon) dar. So kann die synchrone neuronale Funktion und die Hörschwelle abgeschätzt werden. Bei 10 und 15 V/m wurde ein dosisabhängiger Anstieg von Apoptose festgestellt, basierend auf Messungen von Caspase 3, 9 und Tunel-Methode (eine immunohistochemische Technik zur Bestimmung absterbender Zellen). Die Autoren schlossen daraus, dass Apoptose und Immunaktivität in der Cochlea vom elektrischen Feld und dem Leistungswert abhängen, und dass Schädigungen des Innenohrs bereits bei niedrigen Dosen gemessen wurden.
Untersuchungen zu Effekten auf molekularer Ebene und Veränderungen der Mikrostruktur mittels Elektronenmikroskop wurden nicht durchgeführt. Sie wären allerdings interessant, um konkrete Zielstrukturen zu identifizieren. Aufgrund der unzureichenden Dosimetrie und Expositionscharakterisierung in dieser Studie lassen sich noch keine Empfehlungen zur Verwendung von kabellosen Geräten ableiten.
Der Einfluss von HF-EMF für kabellosen Energietransfer auf Zellkulturen (Chow et al. 2024)
Es ist absehbar, dass kabelloser Energietransfer in Zukunft an Bedeutung gewinnen wird. Deshalb wird die in vitro Studie von Chow et al. (2024) hier vorgestellt. In dieser wurde der Einfluss einer für diesen Zweck vorgesehenen Frequenz von 6.78 MHz auf kultivierte menschliche Zellen (HUVEC aus Nabelschnurepithel-Zellen) untersucht. Die Zellen wurden kontinuierlich bei einer magnetischen Flussdichte von 10 μT für 72 oder 24 Stunden exponiert. Das Expositionssystem wurde leider unzulänglich beschrieben und keine Dosimetrie dokumentiert, was einige Unsicherheiten bezüglich der Exposition mit sich bringt. Nach dreitägiger Exposition wurde beobachtet, dass das HF-EMF zu einer Zunahme der Zellzahl sowie einer Abnahme des Anteils von toten Zellen (Apoptose) führte. Als mögliche Erklärung für diese Beobachtungen wurden nach 24 Stunden Exposition Indikatoren für oxidativen Stress gemessen und eine Reduktion von ROS-Bildung (Superoxid) festgestellt, wogegen die Wasserstoffperoxid-Bildung unverändert blieb. Des Weiteren wurden Genaktivität (Transkriptomik) und Proteinmengen (Proteomik) untersucht und Veränderungen von 101 Genen beziehungsweise 146 Proteinen festgestellt. Teilweise gehören diese zu funktionellen Kategorien (wie beispielsweise Zellproliferation, metabolische Regulation und Redox-System), die im Einklang mit den obigen Beobachtungen sind. Die Beobachtungen von Chow et al. (2024) geben Hinweise auf eine mögliche Beeinflussung von Zellen durch 6.78-MHz-EMF bei relativ tiefer magnetischer Flussdichte (10 μT). Allerdings können daraus noch keine direkten Schlüsse bezüglich möglicher Gesundheitsrisiken gezogen werden. Dazu braucht es weiterführende und besser kontrollierte Untersuchungen sowie idealerweise auch tierexperimentelle Daten. [...]
Epidemiologische Studien
Regelmäßige Mobiltelefon-Nutzung und Herz-Kreislauf-Erkrankungen (Zhang et al. 2024)
Anhand von Daten aus der UK-Biobank untersuchten Zhang et al. (2024) einen möglichen Zusammenhang zwischen der Nutzung von Mobiltelefonen und dem Auftreten von Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Die UK-Biobank ist Bestandteil eines grossen Gesundheitsforschungsprojektes, in dem genetische, umweltbezogene und gesundheitsbezogene Daten erhoben werden. In der vorliegenden Studie wurden Daten von 444'027 Personen berücksichtigt, die zu Studienbeginn keine Herz-Kreislauf-Erkrankung hatten. Die Exposition wurde zu Beginn der Studie auf zwei Arten erfasst: (1) Anzahl der Jahre, in denen das Mobiltelefon mindestens einmal pro Woche genutzt wurde und (2) Gesamtdauer der wöchentlichen Telefonnutzung während der letzten drei Monate, unterteilt in sechs Kategorien.
In beiden Fällen handelt es sich um relativ grobe Angaben, basierend auf dem individuellen Erinnerungsvermögen der Studienteilnehmenden und deren Fähigkeit, ihr durchschnittliches Nutzungsverhalten einzuschätzen. Nicht berücksichtigt wurden dabei Faktoren wie verwendetes Netz, Verbindungsqualität und die Position des Telefons in Bezug auf den Körper, wodurch die Expositionsabschätzung im Hinblick auf die HF-EMF-Dosis sehr ungenau ist. Außerdem wurde die Mobiltelefonnutzung nur zu Beginn der Studie erfasst und es stellt sich daher die Frage, wie repräsentativ dies für die Dauer der Nachbeobachtungszeit ist. Obwohl HF-EMF nicht direkt untersucht wurden, implizieren die Autoren in der Einleitung, dass „HF-EMF [...] verschiedene Organe, wie Herz und Blutgefäße, beeinflussen könnten“.
Während des Nachbeobachtungszeitraums von gut 12 Jahren bekamen 56’181 Studienteilnehmende Herz-Kreislauf-Erkrankungen, wie beispielsweise koronare Herzkrankheiten, Vorhofflimmern und Schlaganfälle. Die Studie ergab, dass die Nutzung von Mobiltelefonen mindestens einmal pro Woche mit einem um 4 % erhöhten Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen einherging. Jeder Anstieg der Gesamtgesprächsdauer über 5 Minuten war mit einem zusätzlich erhöhten Risiko für Herz-Kreislauf- Erkrankungen verbunden. Die intensivsten Nutzer (mehr als 6 Stunden pro Woche) hatten ein um 19 % erhöhtes Risiko im Vergleich zu denjenigen, die ihr Mobiltelefon weniger als 5 Minuten pro Woche benutzten.
Zu den Stärken der Studie gehören ihre Stichprobengrösse und ihr prospektives Studiendesign. Schwachpunkte der Studie sind die Unsicherheit bei der Expositionsabschätzung (siehe oben) und das Risiko für Verzerrungen durch nicht berücksichtigte Faktoren. Das Studienteam hat zwar einige Störfaktoren berücksichtigt (beispielsweise Alter, Geschlecht, Wohnort im urbanen Raum, Bildungsgrad, Body-Mass-Index), aber die Ergebnisse deuten darauf hin, dass die Auswahl der Störfaktoren eine wichtige Rolle gespielt hat und dass einige möglicherweise übersehen worden sind. So berücksichtigen die Autoren beispielsweise keine Stressindikatoren als Störfaktoren. Stattdessen untersuchten sie, ob die Effekte der Telefonnutzung durch Schlafstörungen und psychische Beschwerden beeinflusst werden, obwohl dies erwiesenermassen selbst bedeutende Risikofaktoren für Herz-Kreislauf-Erkrankungen sind. Da Schlafstörungen und psychische Beschwerden auch andere Ursachen haben als nur Telefonieren, ist es wahrscheinlich, dass diese Faktoren nicht nur durch das Telefonieren beeinflusst wurden und daher möglicherweise fälschlicherweise als Mediatoren betrachtet wurden. Die Berücksichtigung dieser Merkmale als Störfaktoren hätte stattdessen die gefundenen Zusammenhänge möglicherweise verringert. Das Autorenteam geht nicht auf die kontraintuitive Beobachtung ein, dass Personen, die Freisprecheinrichtungen/Lautsprecher benutzen, ein höheres Risiko haben als Personen, die dies nicht tun. Die Forschenden stellten ausserdem ein etwa doppelt so hohes Risiko für Diabetiker und Raucher fest, gehen aber nicht darauf ein, warum diese Bevölkerungsgruppen stärker gefährdet sein sollten. Dieselbe Forschungsgruppe hat in der Vergangenheit bereits über ein erhöhtes Risiko für neu auftretenden Bluthochdruck (siehe Berenis-Newsletter 36) und mehrere Krebsarten basierend auf selbstberichteter Telefonnutzung (mindestens ein Anruf pro Woche) berichtet. Da sich die Nutzungsmuster von Mobiltelefonen seit dem Beginn der Studie erheblich verändert haben, wären die Auswirkungen auf die öffentliche Gesundheit beträchtlich, wenn diese Zusammenhänge kausal auf die Mobiltelefonnutzung zurückzuführen wären. In Anbetracht der sehr groben Expositionsangaben erscheint dies unwahrscheinlich. Obwohl das Autorenteam einräumt, dass die Studie keine Kausalität nachweisen kann, suggerieren die Formulierungen eine Kausalität und sind bisweilen widersprüchlich.
Experimentelle Humanstudien
Reaktionen des autonomen Nervensystems auf 5G-Exposition (3.5 GHz) bei gesunden Probandinnen und Probanden (Jamal et al. 2024)
Vierundvierzig Teilnehmende (24 männliche, 20 weibliche) wurden einem HF-EMF (pulsmoduliertes 3.5 GHz-Signal; Feldstärke 2 V/m Kopf; 1.5 V/m Rumpf) und einer Kontrollbedingung (kein Feld) ausgesetzt. Insgesamt wurden sieben Durchgänge gemessen: Durchgang 1 und 2 vor der Exposition (Baseline); Durchgänge 3 bis 5 mit Exposition; Durchgang 6 und 7 nach der Exposition. Der Fokus lag auf dem autonomen Nervensystem, operationalisiert durch Messung der Temperatur (Kopf, Nacken: Infrarotkamera; Hand: Temperatursonde) und elektrodermale Aktivität am Finger (Reaktion auf akustische Stimulation). Auswirkungen auf die Hirnaktivität (EEG) wurden bereits früher publiziert (Jamal et al. 2023; kein Effekt beobachtet; Berenis-Newsletter 37). Am Finger wurden keine Temperatureffekte festgestellt. Die Temperatur am Kopf stieg nach der HF-EMF-Exposition leicht an (um weniger als 0.1 °C), die Nackentemperatur stieg sowohl während als auch nach der Exposition leicht an (ca. 0.1 °C). Subtile Veränderungen bestimmter elektrodermaler Parameter wurden nach der Exposition beobachtet, hauptsächlich in Durchgang 7. Diese Effekte könnten auf eine potenziell schnellere physiologische Reaktion auf auditorische Reize hinweisen. Die beobachteten Wirkungen sind innerhalb des normalen physiologischen Bereichs und könnten auch durch unkontrollierte Faktoren beeinflusst werden, worauf auch die Autoren hinweisen. Die Unterschiede liegen im Bereich der Messunsicherheit. Weiter ist die Temperaturmessung mittels Infrarotkamera nicht für Messreihen geeignet. Abschliessend ist festzuhalten, dass die Intensität des Feldes gering war (SAR 0.037 mW/kg; Basisstation) und dass bei diesen Intensitäten kaum Effekte zu erwarten sind.
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Jedes komplexe Problem hat eine Lösung, die einfach, naheliegend, plausibel – und falsch ist.
– Frei nach Henry Louis Mencken (1880–1956) –