Schweiz: Wie die Bevölkerung mit Desinformation umgeht (Allgemein)
Das Forschungszentrum Öffentlichkeit und Gesellschaft (fög) an der Universität Zürich legte im März 2021 den Abschlussbericht des Forschungsprojekts "Falschinformationen, Alternativmedien und Verschwörungstheorien – Wie die Schweizer Bevölkerung mit Desinformation umgeht" dem Schweizer Bundesamt für Kommunikation (Bakom) vor, das ihn im April 2022 auf seiner Website einstellte (Volltext, 92 Seiten). Abgefragt wurden u.a. sechs Verschwörungstheorien, darunter neben dem Klassiker "Mondlandung der Amerikaner 1969 hat nicht stattgefunden" auch "Der neue Mobilfunkstandard 5G verursacht Gesundheitsschäden". Eine Befragung ergab, 94 Prozent des Schweizervolks kannten diese 5G-Verschwörungstheorie, rd. 21 Prozent stuften sie für wahr ein, je rd. 40 Prozent hielten sie für falsch oder konnten sich nicht entscheiden. Quellen der Desinformation nennt der Bericht nicht beim Namen, einschlägig bekannte Schweizer Anti-Mobilfunk-Vereine können deshalb erleichtert aufatmen. Angeführt wird die abstrakte Rangfolge der Desinformanten von "Aktivisten" (60 Prozent) gefolgt von "Social Bots" (51 Prozent), auf dem letzten Platz sehen 14 Prozent der Befragten erstaunlicherweise "Medienunternehmen".
In der gesamtheitlichen Betrachtung der Ergebnisse durch die Autoren heißt es:
Desinformation beinhaltet, wie in den theoretischen Ausführungen zu dieser Studie dargelegt, immer die Intention einer schädlichen Wirkung bzw. ein in Kauf genommener Kollateralschaden zur Realisierung strategischer Ziele. Bei der Betrachtung von Desinformation muss daher auch im Auge behalten werden, dass es Akteur*innen gibt, die aus dem strategischen Einsatz von Falschinformationen Kapital schlagen wollen. Gerade der ehemalige US-Präsident Donald Trump im Zusammenspiel mit traditionellen Medien wie Fox News ist ein Beispiel dafür, wie ein Akteur durch gezielt verbreitete Falschinformationen viel Aufmerksamkeit in journalistischen Medien erhält (Benkler et al., 2020). Auch wenn Informationen als eindeutig falsch identifiziert werden, erhalten sie durch die Verbreitung in journalistischen Medien eine hohe Beachtung und entfalten eine Eigendynamik (Benkler et al., 2018).
Studien zeigen auch, dass die wiederholte Rezeption von Falschnachrichten deren wahrgenommene Glaubwürdigkeit erhöht (Pennycook et al., 2018). Besonders die Medien stehen deshalb in der Verantwortung, mit einer kritischen und einordnenden Berichterstattung die Verbreitung von Desinformation zu verhindern. Dazu gehört auch, problematische Aussagen einflussreicher Akteur*innen zu widerlegen, ohne sie gleichzeitig in den Vordergrund zu rücken, oder den Aussagen dieser Akteur*innen die Publizität sogar ganz zu verweigern. Im Vergleich zu anderen Ländern gibt es in der Schweiz (noch) weniger Akteur*innen, die aus der gezielten Verbreitung von Desinformation Kapital schlagen wollen. Ein für die politische Kultur der Schweiz bemerkenswerter Befund ist nämlich, dass die meisten Alternativmedien, die von Schweizer*innen genutzt werden, aus dem Ausland stammen. Gleichzeitig werden die wenigen Schweizer Alternativmedien auch im Ausland genutzt. Der Befund legt nahe, bei der Bekämpfung von Desinformation transnationale Netzwerke in den Blick zu nehmen und entsprechend grenzübergreifende Lösungen anzustreben. Schliesslich muss Desinformation auch als gesamtheitliches, gesellschaftliches Problem betrachtet werden.
Desinformation ist ein Krisenphänomen und geniesst als solches aktuell Hochkonjunktur. Die Corona-Pandemie ist ein Katalysator für bestehende gesellschaftliche Probleme. Der Fokus in der Forschung sollte daher neben der Problemdiagnose auch weitere, auf verschiedenen Ebenen liegende Ursachen für das gehäufte Auftreten von Desinformation in den Blick nehmen (Freelon & Wells, 2020). Frischlich & Humprecht (2021) zum Beispiel zeigen auf, wie eine «Misstrauensspirale» die Verbreitung von Desinformation begünstigt. Diese Spirale wird angetrieben durch ein Misstrauen in demokratische Institutionen und professionelle Informationsmedien und wird weiter verstärkt durch soziale Ungleichheit oder Polarisierung. Dies senkt wiederum das Vertrauen in Mitmenschen oder andere gesellschaftliche Gruppen und erhöht auf der individuellen Ebene die Anfälligkeit für Desinformation und Verschwörungstheorien. Deshalb sollten Faktoren wie soziale Ungleichheiten (z.B. Digital Inequality oder die ungleiche Verteilung von Reichtum), die politische Polarisierung in der Gesellschaft, soziale Konflikte und Spannungen, populistische Strömungen und der sinkende Stellenwert von professionellen Informationsmedien als Erklärungsansätze weiterverfolgt werden und auf dieser Grundlage sinnvolle, vielschichtige Massnahmen zur Bekämpfung von Desinformation abgeleitet werden.
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Jedes komplexe Problem hat eine Lösung, die einfach, naheliegend, plausibel – und falsch ist.
– Frei nach Henry Louis Mencken (1880–1956) –