Spurensuche: Thiedes Erweckungserlebnis (Allgemein)

H. Lamarr @, München, Sonntag, 19.06.2022, 13:30 (vor 679 Tagen)

Der Publizist Werner Thiede ist in der Anti-Mobilfunk-Szene seit langem eine feste Größe. Mit vielen tendenziösen Artikeln und einigen Büchern versucht er die öffentliche Meinung im Sinne von Mobilfunkgegnern zu beeinflussen. Wie und wann entdeckte der evangelische Theologe ausgerechnet dieses abseits gelegene Geschäftsfeld?

Mit zwei alarmierenden Studien des "Reflex"-Projekts erlebten Mobilfunkgegner um 2004 ihre Blütezeit. Danach ging es kontinuierlich bergab. Im IZgMF-Forum wurde Thiede erstmals 2008 als Mobilfunkgegner sichtbar, die Hysterie um mögliche Risiken des Mobilfunks war seinerzeit bereits deutlich abgeflaut. Warum also sollte ein Publizist, der einen Teil seines Lebensunterhalts mit dem Schreiben über aktuell bewegende Themen bestreitet, ausgerechnet auf ein Pferd setzen, das seine besten Jahre hinter sich hatte?

Google-Trends: Interesse am Suchwort "Elektrosmog" 2004 bis 2022.
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Dafür habe ich zwei Erklärungen, die erste ist spekulativ: Im www-Zeitalter projizieren Suchmaschinen auch winzige Interessengruppen überlebensgroß auf die Bildschirme von neugierigen Surfern. Wer sich darüber nicht im Klaren ist, wähnt sich unversehens in einer voll besetzten Kathedrale, statt in einer Echokammer mit den Abmessungen eines Mikrowellenofens.

Die zweite Erklärung ist beweisbar: Thiede trat der Anti-Mobilfunk-Szene nicht erst 2008 bei, sondern früher.

Einen ersten Hinweis auf das Jahr 2005 liefert dieser irreführend datierte Beitrag des Schweizer Vereins Gigaherz. Das Interview mit der missionarischen Mobilfunkgegnerin Waldmann-Selsam vom Juli 2005 war jedoch nicht Thiedes Debüt auf der Bühne. Dieses fand bereits im Mai 2005 statt. Im Evangelischen Sonntagsblatt (Ausgabe 19/2005) titelte der Theologe noch vorsichtig "Mobilfunk auch vom Kirchturm?". Sein Untertitel "Bedenkenträger befinden sich im Vormarsch" lässt vermuten, seinerzeit war er noch keine Säule in den Echokammern überzeugter Mobilfunkgegner, sondern durchaus ergebnisoffen. Leider ist dieser Artikel im www nicht mehr zu finden, um diese Vermutung zu erhärten.

Zwei Monate später hatte sich Thiede entschieden, den Einflüsterungen organisierter Mobilfunkgegner mehr Glauben zu schenken als der anerkannten Wissenschaft. Nur (noch) scheinbar ergebnisoffen stellte er im Evangelischen Sonntagsblatt (Ausgabe 30/2005) die Titelfrage "Mobilfunksender: ungefährlich oder riskant?". Der Untertitel "Immer mehr bayerische Mediziner erheben warnend ihre Stimme" deutet jedoch bereits an, zu welcher Antwort Thiede gekommen ist, sein Artikel beseitigt dann jeden Zweifel. Auch das Interview mit Waldmann-Selsam erschien in dieser Ausgabe der Sonntagszeitung. Die Ärztin veranstaltete im Januar 2005 ein Anti-Mobilfunk-Symposium in Bamberg und stieg damit schlagartig unter den Glaubensbrüdern und -schwestern in den Echokammern der Szene zur Säulenheiligen auf. Ob sie es war, die den möglicherweise noch zweifelnden Thiede ins Lager der Mobilfunkgegner bugsierte, ist fraglich. Wer Waldmann-Selsam jemals live erlebt hat, kann sich das kaum vorstellen.

Publizisten benötigen einen Riecher für langfristig die Gesellschaft bewegende Themen, denn wer aufs falsche Pferd setzt, durchflöht aufwendig das www nach Brauchbarem und schreibt doch nur für die Katz. So waren die Leserreaktionen auf Thiedes ersten Artikel zum Thema in der Sonntagszeitung vom Mai 2005 sein Erweckungserlebnis, vielleicht ein Fingerzeig Gottes, sich dem scheinbar sehr großen Markt deutschsprachiger Mobilfunkgegnern zuzuwenden. Denn wie er im Juli 2005 (Ausgabe 30/2005) selbst bekundete, war die "Reaktion in Leserkreisen heftiger als gewöhnlich". Möglicherweise wusste der Autor da noch nicht, dass es unter Mobilfunkgegnern usus ist, Aufrufe zum Kommentieren themenbezogener Artikel zu verbreiten, um ihren Anspruch auf Deutungshoheit herbeizutricksen. Wie dem auch sei, für den Publizisten Thiede waren mit der "heftigen" Leserresonanz die Würfel gefallen, fortan das Geschäftsfeld "Risiko Mobilfunk" zu ackern. Er überschritt den alternativen Rubikon, den er später dazu verwenden sollte, seine selektiv zusammengegoogelten Ansichten über das Risiko gratis zu verbreiten, – und beiläufig seine kostenpflichtigen Bücher zum Thema zu bewerben.

Hintergrund
Würdigung des Wirkens von Werner Thiede auf IZgMF-Seiten

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Jedes komplexe Problem hat eine Lösung, die einfach, naheliegend, plausibel – und falsch ist.
– Frei nach Henry Louis Mencken (1880–1956) –

Tags:
Geschäftsmodell, Selbstüberschätzung, Eigenwerbung, Trittbrettfahrer, Hintergrund, Kirchturm, Deutungshoheit, Thiede, Autor, Echokammer, Publizist, Rubikom


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