Neubaugebiet Falge: Tüv Süd vs. Wissenschaftsladen Bonn (Allgemein)

H. Lamarr @, München, Samstag, 26.02.2022, 23:56 (vor 808 Tagen) @ KlaKla

Das Neubaugebiet Falge am Ortsrand von Laichingen, Baden-Württemberg, rückt einer 380-kV-Freileitung dicht auf den Pelz. Droht den künftigen Bewohnern dadurch ein Gesundheitsrisiko? Zwei Gutachter gehen dieser Frage nach und kommen zu völlig gegensätzlichen Bewertungen des Risikos. In der Elektrosmog-Debatte ist dies ein seltener Glücksfall, der eine nähere Betrachtung verdient.

Der Wissenschaftsladen Bonn (Wila) entsandte Dr. Klaus Trost nach Laichingen, um dort, bewaffnet mit Messgeräten, das Gesundheitsrisiko zu ermitteln. Sein Papier vom 10. Juli 2018 trägt den Titel Messbericht und gutachterliche Stellungnahme (PDF, 7 Seiten). Trost macht mit dem Verzicht auf das Wort "Gutachten" korrekt deutlich, dass er kein neutrales Gutachten frei von Parteibindungen vorlegt, sondern ein interessenbezogenes Parteigutachten, das seinem Auftraggeber als Argumentationshilfe dienen soll. Wer sein Auftraggeber war, lässt sich dem Papier allerdings nicht entnehmen. Anders bei Dr. Thomas Gritsch vom Tüv Süd. Sein Papier vom 1. Oktober 2018 trägt den Titel Gutachten elektromagnetische Felder (PDF, 18 Seiten) und weist zweifelsfrei die Stadt Laichingen als Auftraggeber aus.

Befunde der beiden Gutachter

Trost spricht in seinem Papier die Empfehlung aus, die der Hochspannungsleitung am nächsten liegende geplante Häuserzeile nicht zu bauen, da dort die Immissionen durch magnetische Wechselfelder den Vorsorgerichtwert für Kinder (100 nT) überschreiten würden.

Gritsch kommt hingegen zu der Einschätzung, einer Bebauung des Plangebiets mit Wohngebäuden stehe nichts entgegen. Der Gefährdungsgrenzwert werde schlimmstenfalls zu 1,8 Prozent ausgeschöpft. Künftigen Bewohnern der zwei Häuserzeilen, die der Hochspannungsleitung am nächsten kommen, sollten allenfalls darüber informiert werden, dass es in seltenen Fällen beim Gebrauch alter Geräte mit Bildröhre (TV, Monitor), nicht aber bei Flachbildschirmen, zu Bildstörungen kommen könnte.

Unterschiedliche Bewertungsgrundlagen

Die konträren Befunde der beiden Gutachter beruhen auf ihren völlig unterschiedlichen Bewertungsgrundlagen. Wer dies im Detail erforschen möchte möge die oben verlinkten Dokumente selber analysieren. Hier und jetzt will ich nur auf gravierende Unterschiede eingehen.

Bewertung Trost
Trost orientiert sich bei seiner Risikobewertung niederfrequenter magnetischer Wechselfelder an den Grenzwertempfehlungen des schwedischen Gewerkschaftsdachverbands für Angestellte (TCO). Diese "TCO-Grenzwerte" (200 nT für 50-Hz-Felder) wurden ursprünglich für PC-Monitore erdacht und waren bis vor etwa 15 Jahren ein De-facto-Marketing-Muss für alle, die erfolgreich PC-Monitore verkaufen wollten. Die niedrigen TCO-Grenzwerte haben keine wissenschaftliche Grundlage wie die amtlichen Icnirp-Grenzwerte. Sie orientieren sich vorsorglich nach unten am technisch Machbaren, wogegen die Icnirp-Grenzwerte sich nach oben orientieren und Schutz vor nachgewiesenen Gesundheitsrisiken gewährleisten.

Inzwischen ist der Hype um die TCO-Grenzwerte als Monitor-Verkaufshilfe längst vorbei, jedoch hat die Branche der sogenannten Baubiologen die Limits entdeckt und wendet sie auf alles an, was magnetische Wechselfelder verursacht. Also auch auf Hochspannungsfreileitungen. Klaus Trost legt noch einen drauf und verschärft den TCO-Grenzwert auf eigene Faust von 200 nT auf 100 nT für Kinder. Seiner Berechnung zufolge würde eben dieser Wert in der Häuserzeile, die der Hochspannungsleitung am nächsten liegt, mit 150 nT gerissen. Deshalb seine Empfehlung, diese Zeile nicht zu bauen.

Bewertung Gritsch
Gritsch verschwendet keinen Gedanken an die willkürlich gesetzten TCO-Grenzwerte, er orientiert sich an den verbindlichen Grenzwerten der 26. BImSchV, die mit 100 µT (50 Hz) um Faktor 1000 über dem zulässigen Immissionswert liegen, den Trost für Kinder angesetzt hat. Gritschs Berechnungen zufolge wird die kritische Häuserzeile mit maximal 1,6 µT bis 1,8 µT befeldet, und zwar dann, wenn die Hochspannungsleitung mit 100 Prozent Volllast betrieben wird (Volllast heißt amtlich "Höchste betriebliche Anlagenauslastung" und ist in den Durchführungsbestimmungen der 26. BImSchV definiert). Dies wäre noch immer Faktor 16 bis 18 über Klaus Trosts Vorsorgewert für Kinder. Aber Vorsicht: Während Gritsch mit 100 Prozent Volllast rechnet, kalkuliert Trost mit 20 Prozent und 30 Prozent Volllast. Dies bilde die mittlere Immissionslast besser ab. Reduziert man nun Gritschs Prognosewerte zum Zweck der Vergleichbarkeit ebenfalls auf diese mittlere Immissionslast, kommt man auf ungefähr 360 nT.

Die Berechnungen beider Gutachter kommen also zu Werten in der gleichen Größenordnung. Gravierend unterschiedlich ist allein die Bewertung der Prognosewerte. Trost sieht einen willkürlich definierten Vorsorgegrenzwert um 50 Prozent überschritten, Gritsch einen wissenschaftlich ermittelten Gefährdungsgrenzwert (bei 100 Prozent Volllast) um mehr als 98 Prozent unterschritten.

Kein Wunder also, dass die verantwortlichen Politiker in Laichingen sich für das Gutachten des Tüv Süd entschieden und den Bau des Wohngebiets Falge gemäß dem Bebauungsplan freigegeben haben.

Hintergrund
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Jedes komplexe Problem hat eine Lösung, die einfach, naheliegend, plausibel – und falsch ist.
– Frei nach Henry Louis Mencken (1880–1956) –

Tags:
Baubiologie, Grenzwertausschöpfung, Gritsch, TUEV, Trost


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