Heilpraktiker: Dichtung & Wahrheit, ein Fallbeispiel (Allgemein)

H. Lamarr @, München, Donnerstag, 25.04.2019, 23:43 (vor 1830 Tagen)

Die Kunst der Darstellung ist die halbe Karriere, heißt es. Manchmal genügen schon ein paar geschickt gesetzte Worte, um einen banalen Sachverhalt zu dramatisieren und die Leser gezielt in die Irre zu führen.

Ein Heilpraktiker-Newsblog lässt im März 2019 seine Leser wissen:

Presserat verurteilt Falschaussage über Heilpraktiker

von Christian Becker · Veröffentlicht März 27, 2019 · Aktualisiert April 11, 2019

In der Online-Ausgabe einer überregionalen Tageszeitung ist ein Artikel mit der Überschrift „Heilpraktiker – Gefahr oder Segen?“ erschienen. Eine Leserin hatte die Zeitung beim Presserat angezeigt, da er aus ihrer Sicht mit unbelegten Tatsachenbehauptungen den Ruf der Heilpraktiker schädigt. Der Journalist hatte behauptet, Patienten trauten sich oft nicht, gegen Heilpraktiker vorzugehen. Im Prozess hat der Presserat, ein Organ der Journalisten, der Klageführerin Recht gegeben und die Tageszeitung verurteilt (Aktenzeichen 1106/17/1). Der Beschwerdeausschuss des Presserates erkenne eine Verletzung der journalistischen Sorgfaltspflicht. Bei der Aussage des Journalisten handele es sich um eine unbelegte Tatsachenbehauptung. Die Redaktion habe diese Behauptung nicht mit Fakten untermauert. Aufgrund der Tragweite der Behauptung wäre dies jedoch notwendig gewesen, so der Presserat.
[...]

Soviel zur Dichtung. Die Wahrheit findet sich im Bauch der Datenbank des Presserates unter dem oben genannten Aktenzeichen (Jahr 2018). Dort wird der Sachverhalt weniger dramatisch geschildert, von einer "Falschaussage" der Tageszeitung ist keine Rede. Den behaupteten "Prozess" hat es ohnehin nie gegeben, denn der Presserat ist keine Polizeidienststelle, die Anzeigen entgegen nimmt und auch kein Handlungsorgan der Judikative, das zu Gericht sitzt, sondern ein Verein der großen deutschen Verleger- und Journalistenverbände. Der Presserat kann redaktionelle Entgleisungen sanktionieren, rechtsverbindlich verurteilen kann er sie nicht. Der schärfste Tadel des Presserats ist eine "öffentliche Rüge", der mildeste Tadel ein "Hinweis" an den Übeltäter (beschuldigte Redaktion). Nett auch, dass die Beschwerdeführerin (vergleiche oben "Klageführerin") – wie sich im folgenden Text des Presserats herausstellt, nicht nur eine zürnende "Leserin" des besagten Artikels ist, sondern zugleich Vertreterin eines Homöopathen-Verbands :-):

In der Online-Ausgabe einer überregionalen Tageszeitung erscheint ein Beitrag unter der Überschrift „Heilpraktiker – Gefahr oder Segen?“ Im Artikel geht es um die Kritik der Schulmedizin an Heilpraktikern. Der Autor schreibt, Patienten trauten sich of nicht, gegen Heilpraktiker vorzugehen. Deshalb gebe es eine erhebliche Dunkelziffer im Hinblick auf Zwischenfälle bei Behandlungen. Die Beschwerdeführerin, die einen Homöopathen-Verband vertritt, wendet sich gegen die Berichterstattung. Die Aussage, Patienten trauten sich oft nicht, gegen Heilpraktiker vorzugehen, sei eine unbelegte Tatsachenbehauptung. Der Chefredakteur der Zeitung teilt mit, es wäre wohl besser gewesen, das zitierte „oft“ durch ein „wohl“ zu relativieren. Gleichzeitig sei aber klar, dass es Dunkelziffern gebe, die nicht genau beziffert werden könnten. Der Chefredakteur zitiert eine Medizinrechtlerin: „Es gibt eine hohe Dunkelziffer. Patienten schämen sich, wenn sie entdecken, dass sie betrogen wurden. Sie denken, sie seien selbst schuld. Oder sie sterben im Glauben, das Richtige getan zu haben.“ Der Beschwerdeausschuss erkennt eine Verletzung der in Ziffer 2 des Pressekodex definierten journalistischen Sorgfaltspflicht. Er spricht einen Hinweis aus. Bei der Aussage, dass Patienten sich oft nicht trauten, gegen ihren Heilpraktiker vorzugehen, handelt es sich um eine unbelegte Tatsachenbehauptung. An keiner Stelle der Berichterstattung untermauert die Redaktion diese Aussage mit Fakten. Aufgrund der Tragweite der Feststellung wäre dies jedoch notwendig gewesen. Alternativ hätte die Darstellung als Vermutung gekennzeichnet werden müssen.

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Jedes komplexe Problem hat eine Lösung, die einfach, naheliegend, plausibel – und falsch ist.
– Frei nach Henry Louis Mencken (1880–1956) –

Tags:
Homöopathie, Journalist, Aktenzeichen, Tatsachenbehauptung, Presserat, Deutungshoheit, Heilpraktiker


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