Unerkannte Risiken in den Versicherungsbilanzen ▼ (Allgemein)

Doris @, Dienstag, 18.08.2009, 15:05 (vor 5384 Tagen)

Unerkannte Risiken in den Versicherungsbilanzen

Frei nach Johann Wolfgang von Goethe „gibt es mehr Risiken zwischen Himmel und Erde, als sich unsere Schulweisheit träumen lässt“. Mögen manche auch nur Phantomrisiken sein, schlummern sie gleichwohl als Zeitbomben in den Bilanzen der Versicherer, befürchtet Chefredakteur Frank Romeike in „RC&A“ 4/2009 (Risk, Compliance & Audit), das wie der Risiko Manager im Bank-Verlag Medien GmbH erscheint.

Das Wort Phantom ist griechisch-französischer Herkunft und lässt sich auch mit Sinnestäuschung übersetzen. Doch kann diese plötzlich sehr real werden und selbst große Versicherer in den Ruin treiben, erinnert Romeike an die Abwicklung der einstigen Gerling Globale Rückversicherung AG, die sich Ende der 1990er Jahre in den USA ein dickes Rückversicherungs-Geschäft voller Asbest besorgt hatte (VersicherungsJournal 10.2.2005).
Asbest galt als phantastischer Werkstoff

Nach älteren Lexika gilt Asbest, eine mineralische Faser aus Hornblende und Serpentin, als fantastischer und bewährter Werkstoff: weitgehend feuerfest, biegsam und wiederstandsfähig selbst gegen schwache Säuren. In der Bauwirtschaft war er daher weltweit sehr geschätzt. Auch Feuerschutzkleidung oder ältere Nachtspeicheröfen enthielten Asbest.

Dann kam die Kehrtwende: Asbest wurde zum Krebserreger. Es wird daher schon seit Jahrzehnten nicht mehr in der Industrie verwendet. Aber in den USA sind noch rund 700.000 Schadenersatzklagen anhängig, wie Romeike schreibt. Dabei müssen die Opfer nicht unbedingt erkrankt sein. Sie werden auch entschädigt, wenn sie nur Asbest ausgesetzt gewesen sind.
Bis die Technikbegeisterung kippt

Wirtschaftliche Phantomrisiken tauchen überall dort auf, wo die Technikbegeisterung der Industriegesellschaft in Skepsis und Bedenken umschlage, versichert der Autor.

Noch sind wir von den Möglichkeiten, die die Nanotechnologie für Medizin und Industrie verspricht, sehr angetan. Doch die Versicherer haben die Asbestschäden vor Augen und begleiten die neue „Zwergentechnologie“ mit Argusaugen (VersicherungsJournal 29.5.2006, 14.9.2004).
Derzeit Phantomrisiko Nummer 1: Elektrosmog

Das derzeit bekannteste Phantomrisiko ist aber sicherlich der Elektrosmog. „Elektromagnetischer Wellen-Nebel umgibt uns wie die Luft zum Atmen“, so Romeike weiter.

Etwa 370 Millionen Kilowatt Strom surren täglich durch Kühlschränke, Stereoanlagen, Fernsehen, Computer und Mikrowelle. Auch wer auf Mobiltelefon, Computer und andere elektrische Geräte verzichtet, ist diesen elektromagnetischen Wellen ausgesetzt.
Kann Telefonieren wahnsinnig machen?

Es ist nicht zuletzt der Zeitgeist, der aus einem Phantomrisiko ein reales Risiko mache, betont Romeike. Das lehre ein Blick in die Vergangenheit. So galten im Jahr 1904 Telefonkabel noch als großes Risiko für Haus und Mensch. Vor dem Telefonieren wurde gewarnt. Es ruiniere das Gehör.

Im Jahr 1912 stand das Mundstück des Telefons im Verdacht, auch Tuberkulose zu verbreiten. Der Gebrauch des Telefons könne zum Wahnsinn führen, wurde vermutet. Jedenfalls sollten leicht erregbare Menschen besser nicht telefonieren. Dieses Phantom blieb jedoch eine Sinnestäuschung.
Mobiltelefone erwärmen das Gehirn

Bei Elektrosmog kann das anders ausgehen. Denn vor allem die öffentliche Wahrnehmung spielt eine Rolle. Wenn sich der Verdacht in breitem Umfang durchsetzt, dass Elektrosmog gesundheitsschädlich ist, so wird aus dem Phantomrisiko ein reales Risiko. Noch ist der Ausgang der Debatte offen.

Vor allem Mobiltelefone sind derzeit im Gespräch. Nach Expertenmeinung kann deren elektromagnetische Strahlung in die Köpfe eindringen und das Gehirn um 0,1 Grad erwärmen. Das gelte als unbedenklich.

Etliche Experten allerdings gehen davon aus, Elektrosmog verursache generell Depression, Schlaflosigkeit, Krebs, Alzheimer und Parkinson, was wiederum von anderen Fachleuten vehement bestritten wird.
Unberechenbare Risiken

Das Problem für die Versicherer ist, dass sie Phantomrisiken nicht kalkulieren können, obwohl sie letztlich dafür aufkommen müssen, sofern sie real werden. Denn typisch für solchen Risiken sei:

* Ein ursächlicher Zusammenhang zwischen Ereignis und Schaden ist nicht nachweisbar, sondern basiert auf Vermutungen.
* Die Eintrittswahrscheinlichkeit des Schadens ist mit statistisch-mathematischen Methoden nicht berechenbar.
* Das konkrete Schadenausmaß ist nicht abschätzbar.
* Das Gefährdungspotenzial wird aufgrund der unterschiedlichen Betroffenheit und der ungleichen Verteilung der Verluste divergierend wahrgenommen.
* Durch negative Grundstimmung, öffentliche Kontroversen und verändertes Konsumentenverhalten bis hin zu Boykotten wird ein wirtschaftliches Sanktionspotenzial aufgebaut.

Gefahren werden auch gemacht

Dieser Prozess werde insbesondere von den Medien, der Politik, der Wissenschaft und vielen Interessengruppen beeinflusst. Sie entscheiden letztlich, ob etwas als Gefahr betrachtet wird.

In diesem Zusammenhang erwähnt der Autor auch die Schweinegrippe. Bis heute sind an dieser Pandemie weltweit glücklicherweise deutlich weniger Menschen gestorben als an der normalen Grippewelle im Winter 2002/2003 allein in Deutschland. Dieser erlagen zwischen 16.000 und 20.000 Menschen.
Der Rat zum Schluss

Daher empfiehlt Romeike eine kritische Auseinandersetzung mit dem Fortschritt in Form eines Dialogs zwischen Öffentlichkeit, Wissenschaft und Politik, um Risiken bewusst und kontrolliert eingehen zu können.

Diese Risiko-Kommunikation verlange aber auch, sich in sein Gegenüber hinein zu versetzen und dabei über den eigenen Tellerrand hinaus zu schauen.

Quelle: Versicherungsjournal Deutschland 18.08.2009

Troll-Wiese: http://www.izgmf.de/scripts/forum/index.php?mode=entry&id=33400

Tags:
Risikokommunikation, Risiko, Versicherung, Konsumenten, Asbest, Nanotechnologie, Schadenersatzklage, Phantomrisiko


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