Sittenbild hier, Augenwischerei dort (Forschung)

H. Lamarr @, München, Dienstag, 25.11.2008, 15:13 (vor 5638 Tagen) @ Doris

Den Artikel habe ich überflogen und ich kann nicht sagen, dass hier eine Parteinahme zugunsten eines der Kontrahenten zu erkennen ist. Das macht den Artikel erstmal sympathisch. Eher unterschwellig habe ich dann aber doch den Eindruck bekommen, dass die Professoren Rüdiger und Prof. A. besser wegkommen als ihre Kontrahenten. Vielleicht, weil deutlich wird, dass die Autorin sich mehr mit der Fraktion um Rüdiger befasst hat, vielleicht auch wegen der vom Text nicht weiter gedeckten Behauptung "Konflikt zwischen Mobilfunkindustrie & Wissenschaft" im Untertitel.

Und trotz der vermeintlich umfassenden Arbeit der Autorin hat der Artikel aus meiner Sicht eine gravierende Schwäche: Denn die eigentliche Ursache des Problems mit Rüdigers Studien wird mit keiner Silbe erwähnt. Vielmehr wird die Rolle von Frau K. sehr umfassend dargestellt, was sicherlich auch seinen Reiz hat, aber eben nur von sekundärer Bedeutung ist. Worauf ich hinauswill: Auslöser des Streits um die beiden Studien ist nicht Frau K. und ihre mögliche Fälschung von Daten gewesen, sondern es sind Auffälligkeiten in der Statistik der Studien gewesen. Dies ist hier im Forum schön dokumentiert, der Fälschungsvorwurf gegen Frau K. kam erst später im Zuge der Beweisführung hinzu. Eigenartigerweise redet jetzt niemand mehr von der seltsamen Statistik, vielmehr dreht sich alles um Frau K. Das mag publikumswirksamer sein als die Auseinandersetzung um eine langweilige Statistik, verstellt jedoch den Blick aufs Wesentliche. Denn wenn Frau K. keine Daten gefälscht hat, stellt sich dennoch weiter die Frage: Wie kommt es dann zu den Auffälligkeiten der Statistik?

Mittlerweile sollte das Taschenbuch von Prof. Lerchl, in dem er seine Sicht der Dinge zu den Vorfällen in Wien schildert, im Handel verfügbar sein. Dort ist auch mit Blick auf Laien Nachzulesen, was an der Statistik der Wiener Studien auszusetzen ist. Die Autorin des Profil-Artikels sollte das Büchlein lesen, denn in der bei Profil dargelegten Chronik der Ereignisse fehlen noch etliche bedeutsame Einträge.

Bedeutsam ist auch noch etwas anderes: Lerchl, "der Bremer Sherlock Holmes", wie er auf dem Buchrücken zitiert wird, bekommt von schlecht informierten Mobilfunkkritikern gerne den Stempel eines industriefreundlichen Mietmauls aufgedrückt. Greifbare Belege dafür gibt es zwar nicht, diverse eher schlichte Gemüter geben sich indes gerne schon mit der bloßen Behauptung zufrieden, dass es so sei. Im Falle der Wiener-Studien kam freilich die Initialzündung, diese Studien anzugreifen, gar nicht von Lerchl - sondern aus Kreisen der Mobilfunkkritiker! Der erste Hinweis (an Lerchl), dass mit den Daten der Wiener Studien etwas nicht stimmen könne, kam von einem Kritiker, den ich wegen seiner strikt sachlichen Haltung in der Debatte sehr schätze, obwohl er alle Voraussetzungen hätte, genauso "dramatisch" und "aufbauschend" in der Debatte mitzumischen, wie dies andere machen. Aber: er tut's nicht. Weil er weiß, dass dies der falsche Weg ist. Er ist nur an der Wahrheit interessiert. Und deshalb hat er - obwohl er mMn mit zum Besten gehört, was die kleine Fraktion der fachlich versierten Kritiker zu bieten hat - ziemlich selbstlos und für Fanatiker ganz und gar unverständlich diesen Stein gegen die Wiener-Studien ins Rollen gebracht.

Aus meiner Sicht ließe sich das Theater um die Wiener Studien relativ einfach beenden, nämlich indem endlich einmal Transparenz in die Vorgänge gebracht wird und die Handvoll Betroffener anfängt miteinander zu sprechen, statt sich Fernduelle über die Medien zu liefern. Höchst hilfreich wären z.B. öffentliche Anhörungen oder zumindest gemeinsam verabschiedete Erklärungen. Redeverbote und Geheimdokumente sind, so es sie wirklich gibt, keine probaten Mittel, mit diesem Konflikt rückstandsfrei umzugehen.

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Jedes komplexe Problem hat eine Lösung, die einfach, naheliegend, plausibel – und falsch ist.
– Frei nach Henry Louis Mencken (1880–1956) –

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