Schweden-Mythos: Elektrosensibilität keine anerkannte Erkrankung (Elektrosensibilität)
Die Behauptung, Schweden habe "Elektrosensibilität" (EHS) als Erkrankung oder Behinderung offiziell anerkannt, ist in der Mobilfunkdebatte weitverbreitet, z.B. hier. Sie dient häufig als scheinbar schlagkräftiges Argument dafür, auch andere Länder müssten EHS ähnlich ernst nehmen. Doch wie tragfähig ist die Behauptung wirklich? Eine faktenbasierte Analyse zeigt, dass der "Schweden-Mythos" bei kritischer Überprüfung einknickt. Die Analyse ist das Ergebnis einer längeren, teils kontroversen Diskussion zwischen ChatGPT und mir.
Was bedeutet "Anerkennung"?
Im schwedischen Rechtssystem bedeutet die Anerkennung einer gesundheitlichen Beeinträchtigung nicht automatisch die Anerkennung einer medizinischen Diagnose im Sinne der WHO oder ICD-Klassifikation. Vielmehr kann eine Person, die subjektiv unter bestimmten Symptomen leidet, unter bestimmten Voraussetzungen Anspruch auf Hilfe oder Nachteilsausgleich erhalten – auch ohne medizinisch gesicherte Ursache. Dies betrifft etwa das Diskriminierungsschutzgesetz oder einzelne Fälle im sozialen Leistungsrecht.
Ein zentraler Begriff ist dabei die "funktionelle Beeinträchtigung" (funktionshinder). Darunter fällt jede Einschränkung, die das Alltagsleben erschwert, unabhängig von der medizinischen Erklärbarkeit. Die schwedische Sozialbehörde erkannte in einem Rundschreiben 2006, dass sich Menschen mit "elöverkänslighet" als funktionell beeinträchtigt sehen könnten. Das ist jedoch kein medizinischer Status, sondern ein verwaltungsrechtlicher Zugang zur Barrierefreiheit.
Beispiel für Einzelfallentscheidungen
Einige EHS-Betroffene in Schweden haben individuelle Anpassungen erhalten: etwa eine Wohnung in einem "funkaritetsanpassat" (behindertengerecht gestalteten) Umfeld oder elektromagnetischer Schirmung. Grundlage war hier jedoch nicht die Anerkennung von EHS als Krankheit, sondern die behördliche Einschätzung der konkreten Beeinträchtigung im Einzelfall.
Ein prominentes Beispiel ist das Urteil RÅ 1996 not 50, in dem einer Antragstellerin teilweise Leistungen gewährt wurden, weil ihre Beschwerden ihr Alltagsleben nachweislich einschränkten. Entscheidend war dabei nicht, ob EHS existiert, sondern ob konkreter Unterstützungsbedarf glaubhaft gemacht werden konnte.
Gegenteilige Gerichtsurteile
Dem stehen mehrere Urteile gegenüber, in denen Anträge auf Leistungen mit Verweis auf EHS abgelehnt wurden:
RÅ 1995 not 338 und 339: Ein Antragsteller erhielt weder Kfz-Hilfe noch finanzielle Unterstützung, da keine objektiv nachweisbare Behinderung vorlag.
In dokumentierten Fallverläufen ist ersichtlich, dass EHS-Anträge bereits in der ersten Instanz der Verwaltungsgerichtsbarkeit (Förvaltningsrätt), die in Schweden auch fürs Sozialrecht zuständig ist, abgewiesen wurden, auch wenn diese Urteile selbst nicht die Veröffentlichungsschwelle erreicht haben.
Auch die höchsten schwedischen Gerichte folgen dabei durchgehend der Linie, dass es für die Anerkennung einer gesundheitlichen Einschränkung eines nachvollziehbaren, objektivierbaren medizinischen Zusammenhangs bedarf.
Was sagen schwedische Gesundheitsbehörden?
Das staatliche Gesundheitsamt (Socialstyrelsen) sowie das Amt für Arbeitsumweltfragen (Arbetsmiljöverket) stellen klar, dass es keine wissenschaftlich gesicherten Belege für einen Zusammenhang zwischen EMF und den bei EHS berichteten Symptomen gibt. Empfehlungen lauten in der Regel, sich an den psychosomatischen Leitlinien zu orientieren.
Wie kam der Mythos zustande?
Die Wurzel des "Schweden-Mythos" liegt in der Öffentlichkeitsarbeit einzelner Akteure wie des schwedischen Neuro-Wissenschaftlers Olle Johansson, der über Jahre hinweg behauptete, EHS sei in Schweden offiziell als Behinderung anerkannt. Diese Aussage ist irreführend: Zwar können Menschen mit EHS-Symptomen in Einzelfällen unter das Diskriminierungsgesetz fallen, doch wird EHS damit weder als Krankheit anerkannt noch als valide medizinische Diagnose geführt.
Fazit
Der "Schweden-Mythos" beruht auf einer Fehlinterpretation der rechtlichen und sozialen Realitäten in Schweden. Es gibt keine pauschale oder medizinisch-wissenschaftlich fundierte Anerkennung von Elektrosensibilität als Erkrankung. Was existiert, sind Einzelfallregelungen, die auf subjektiven Beschwerden beruhen und streng juristisch als funktionelle Beeinträchtigungen gewertet werden. Wer daraus ableitet, Schweden habe EHS offiziell anerkannt, betreibt grobe Vereinfachung.
Empfehlung für die Praxis
Eine seriöse Auseinandersetzung mit EHS sollte zwischen subjektivem Leidensdruck und objektiv belegbaren Krankheitsursachen unterscheiden. Schweden bietet dafür ein interessantes, aber keineswegs vorbildliches Modell – sondern eher ein Lehrstück darüber, wie wichtig differenzierte Bewertung in Medizin, Recht und Gesellschaft ist.
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Jedes komplexe Problem hat eine Lösung, die einfach, naheliegend, plausibel – und falsch ist.
– Frei nach Henry Louis Mencken (1880–1956) –