Neues von Berenis (42): Oktober 2025 (Forschung)

H. Lamarr @, München, Montag, 27.10.2025, 22:34 (vor 15 Tagen)

Im Zeitraum von Ende Oktober 2024 bis Ende Januar 2025 wurden 105 neue Publikationen identifiziert, von denen drei von Berenis vertieft diskutiert wurden. Alle drei wurden gemäss den Auswahlkriterien als besonders relevant und somit zur Bewertung ausgewählt und werden im Folgenden vorgestellt. Ungekürzt und mit Literaturangaben gibt es den aktuellen Berenis-Newsletter hier.

Experimentelle Tier- und Zellstudien

Auswirkungen von niederfrequenten Magnetfeldern auf reife Zellen (Sun et al. 2025)
In dieser In-vitro-Studie gingen die Forschenden der Frage nach, ob gealterte (seneszente) Zellen sensitiver auf eine 24-stündige Exposition mit einem 50-Hz-NF-MF (1 mT, Sinus-Welle) reagieren als frisch-isolierte menschliche Lungenfibroblasten. Anders als beispielsweise Krebszellen haben Kulturen von primären Zellen eine beschränkte Lebensdauer, wobei das Teilungspotential der Kulturen mit zunehmendem Alter abnimmt, einhergehend mit physiologischen und molekularen Veränderungen. Dieses biologische Phänomen wird als Seneszenz bezeichnet. In «jungen» Zellkulturen haben die Autorinnen und Autoren bei der Analyse von DNS-Schäden (Kometen-Assay und ein Biomarker für DNS-Doppelstrangbrüche) keinen Einfluss bzw. eine leichte Reduktion durch 50-Hz-NF-MF-Exposition gefunden, wogegen seneszente Zellen mit mehr als 50 Teilungen mit einer Zunahme der DNS-Schäden auf die Exposition reagierten, wobei bei Letzteren auch die Hintergrundlevel in den Kontrollen erhöht waren. Das gezielte Auslösen von Seneszenz durch das Bleichmittel Wasserstoffperoxid (H2O2) führte zu einem vergleichbaren Effekt: Die gealterten Zellen reagierten mit mehr DNS-Schäden auf das 50-Hz-Magnetfeld. Im Weiteren wurde in seneszenten, aber nicht in «jungen» Zellkulturen, eine leichte Zunahme von ROS und der intrazellulären Kalziumkonzentration nach der Exposition beobachtet. Diese Effekte wurden auf eine schnellere Freisetzung von Kalzium aus den Mitochondrien durch eine spezifische Membranpore (mPTP) zurückgeführt, wobei eine pharmakologische Blockierung dieser Pore sowohl die expositionsbedingte ROS-Produktion als auch die DNS-Schädigungen verhinderte.

Diese Zellstudie war hinsichtlich experimenteller und technischer Durchführung recht gut gemacht, allerdings bringt das Durchführen der Schein-Expositionen in einem separaten Brutschrank einige Unsicherheiten mit sich. Sie liefert interessante mechanistische Hinweise und verdeutlicht, dass die Reaktion auf NF-MF abhängig vom Zustand der Zellen und nicht generalisiert betrachtet werden sollte. Ob sich die Befunde aus einem solchen zellkultur-basierten Modell auf den normalen Alterungsprozess vom Menschen übertragen lassen, ist hingegen nicht abschliessend geklärt und bedarf weitergehender Untersuchungen.

Mess-Studien

Expositionsmessungen in der Schweiz: niederfrequente Magnetfelder von Umweltquellen (Loizeau et al. 2024) und hochfrequente Downlink- und Uplink-Expositionen seit der Einführung von 5G (Veludo et al.-2025)
In den beiden Studien von Loizeau et al. (2024) und Veludo et al. (2025) wurden reale Expositionssituationen in der Schweiz in definierten Umgebungen (Aussenbereiche, öffentliche Orte und Fahrten in Transportmitteln) untersucht. Der Fokus lag dabei auf typischen Szenarien für niederfrequente magnetische Felder (NF-MF) aus gängigen Umweltquellen (Loizeau et al. 2024) sowie auf Downlink- und Uplink-Expositionen seit der Einführung von 5G (Veludo et al. 2025). Die Loizeau-Studie führte NF-MF-Messungen in 300 Aussenbereichen (städtisch, industriell und ländlich), 248 öffentlichen Orten (Bahnhöfe, Geschäfte, Restaurants, Schulen usw.), 348 Fahrten in Transportmitteln (Zug, Tram, Bus, Metro, Seilbahn und Auto) sowie in 59 Wohnungen (nahe Hoch- und Mittelspannungsleitungen, Eisenbahn- und Tramlinien und Umspannwerken) durch. Als Messgerät wurde ein ExpoM-ELF verwendet, das die Forschenden in Rucksäcken im Freien, in öffentlichen Räumen und während der Fahrt mit öffentlichen Verkehrsmitteln mitführten oder bei Messungen in Wohnungen auf einem Stativ montierten. Die höchsten NF-MF-Werte wurden an Bahnhöfen, in Zügen und an Tramhaltestellen gemessen, die niedrigsten an Flughäfen, in Seilbahnen und in Grünanlagen. Die höchsten NF-MF-Werte im privaten Umfeld wiesen klar Wohnungen in der Nähe von Hochspannungsleitungen auf, gefolgt von Wohnungen nahe Transformatoren, Eisenbahn- und Tramlinien – alle mit erhöhten Werten im Vergleich zu Referenzwohnungen ohne solche Umweltquellen in ihrer Nähe. Alle gemessenen Werte lagen deutlich unter den schweizerischen Grenzwerten für Umweltexpositionen. Jedoch überschritten 2,9 % der Messungen in Wohnungen und 1,2 % in Bildungseinrichtungen, die als „Orte mit empfindlicher Nutzung“ gelten, den schweizerischen Vorsorgegrenzwert von 1,0 μT für Hochspannungsleitungen. Auch wenn mehrere Quellen zu dieser Überschreitung beitragen, gilt dieser Grenzwert für jede einzelne Anlage separat. In den meisten Häusern mit Messwerten von über 1,0 μT ist die Exposition überwiegend auf nahegelegene Hochspannungsleitungen zurückzuführen, ausser in einem Haus, wo sie einem beheizten Wasserbett zugeschrieben wurde, für das der Vorsorgegrenzwert nicht gilt. Eine Überschreitung ist ausserdem möglich, wenn der Betreiber nachweist, dass alle zumutbaren Massnahmen zur Minimierung der Exposition getroffen wurden.

Die Korrelationen zwischen Messungen aus den Jahren 2021–2022 und 2023–2024 in denselben Umgebungen waren in öffentlichen Verkehrsmitteln moderat und in den meisten Aussenbereichen und öffentlichen Orten hoch, was auf stabile Expositionskontraste über die Zeit hinweg hinweist. Zudem entwickelten die Forschenden eine Umwelt-Expositionsmatrix zur Abschätzung typischer Expositionen basierend auf dem Wohnort (nahe Stromleitungen, Eisenbahnlinien oder ohne Umweltquellen), dem Arbeitsplatz (im Zug, in einem Industriegebiet oder in einer Schule) sowie dem Verkehrsmittel auf dem Arbeitsweg (Zug, Tram, Auto). Die Forschenden weisen auf erhebliche Unterschiede innerhalb gleicher Umgebungen hin, was bei Anwendung der Matrix möglicherweise zu einer Fehleinstufung der Exposition in epidemiologischen Studien führen kann, selbst bei Kohorten mit bekannten Alltagsmustern.

In der Veludo-Studie wurden zusätzlich Umwelt- und selbstinduzierte HF-EMF-Expositionen in verschiedenen Umgebungen gemessen, darunter städtische, industrielle und ländliche Aussenbereiche sowie öffentliche Räume wie Bahnhöfe, Geschäfte und Universitäten. Ein ExpoM-RF4-Messgerät wurde im Rucksack getragen und erfasste HF-EMF-Werte in 35 unterschiedlichen Frequenzbändern. Es wurden drei Szenarien gemessen: (1) ein Nicht-Nutzer-Szenario mit dem Mobiltelefon im Flugmodus zur Erfassung der Umgebungsstrahlung; (2) ein maximales Downlink-Szenario, bei dem wiederholt eine Datei von einem Server heruntergeladen wurde, und (3) ein maximales Uplink-Szenario, bei dem wiederholt eine Datei auf einen Server hochgeladen wurde. Die durchschnittlichen HF-EMF-Werte im Nicht-Nutzer- und maximalen Downlink-Szenario waren in städtischen Gebieten höher als in ländlichen. Im Gegensatz dazu waren die Messwerte im maximalen Uplink-Szenario in ländlichen Gebieten höher, bedingt durch die schlechtere Signalqualität der Basisstationen, was zu einer erhöhten Ausgangsleistung des Telefons führte.

Im Nicht-Nutzer-Szenario dominierten die Downlink-Frequenzbänder. Im maximalen Downlink-Szenario lieferte das neue 5G-Zeitduplexband (TDD) bei 3,5 GHz den Hauptbeitrag zur HF-EMF-Exposition, insbesondere in Städten mit gut ausgebautem 5G-Netz. Durch gezielte Auslastung („self-induced downlink“) kam es dort zu dynamischem Beamforming. Im maximalen Uplink-Szenario trugen sowohl das 2,1-GHz-Uplink-Band als auch 5G TDD im 3,5-GHz-Band wesentlich zur Exposition bei, wobei in ländlichen Gebieten der 5G-Anteil aufgrund der grösseren Entfernung zu 5G-Diensten deutlich geringer war. Die Forschenden merken an, dass bei der TDD-Technologie Uplink (vom Telefon) und Downlink (von der Basisstation) nicht getrennt erfasst werden können, wodurch sich ihre jeweilige Beitragshöhe zur Gesamt-Exposition nicht bestimmen lässt.

Weitere Publikationen zur Information

NIS-Monitoring in der Schweiz
Das Projektkonsortium SwissNIS hat den vierten Jahresbericht veröffentlicht. In diesem werden die Messungen, die im Rahmen des Schweizer NIS-Expositionsmonitorings im Jahr 2024 durchgeführt wurden, beschrieben.

Europäischer Forschungscluster zu elektromagnetischen Feldern und Gesundheit: Informationspapier
Der europäische Forschungscluster zu elektromagnetischen Feldern und Gesundheit (CLUE-H) hat ein Informationspapier zur Verwendung verschiedener Expositionsmetriken in der Forschung zu gesundheitlichen Auswirkungen elektromagnetischer Felder veröffentlicht. Darin wird erläutert, «wofür die verschiedenen Expositionsmetriken verwendet werden, was diese Grössen bedeuten und warum die verschiedenen Metriken dazu beitragen, die jeweiligen Politik- und Forschungsziele zu erreichen.»

ICNIRP-Stellungnahme zu Wissenslücken
Die Internationale Kommission zum Schutz vor nichtionisierender Strahlung (ICNIRP) hat eine Stellungnahme veröffentlicht, in der sie Wissenslücken im Zusammenhang mit den „ICNIRP- Richtlinien zur Begrenzung der Exposition gegenüber zeitlich variierenden elektrischen, magnetischen und elektromagnetischen Feldern (100 kHz bis 300 GHz)“ beschreibt.

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Jedes komplexe Problem hat eine Lösung, die einfach, naheliegend, plausibel – und falsch ist.
– Frei nach Henry Louis Mencken (1880–1956) –


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