Desinformation mit Resolution 1815 des Europarats (Elektrosensibilität)

H. Lamarr @, München, Montag, 29.12.2025, 19:45 (vor 1 Tag, 20 Stunden, 52 Min.)

Der Verein für "Elektrosensible" will in München und Umgebung eine "Plakataktion" aus dem Boden gestampft haben. Doch statt über diese Aktion stolz wissenswerte Details zu erzählen, verbreitet der Verein Geschichten vom Pferd und verdreht bei seiner Würdigung der Resolution 1815 des Europarats, was zu verdrehen ist.

Das einzig konkrete, was der Verein über seine "Plakataktion" preisgibt, ist das Bildmotiv. Es soll die sechs Meter hohe Skulptur des "Schlaflosen" zeigen, den Bürger des Ortes Valley einst aus Protest gegen den US-Großsender "Radio Freies Europa" nahe dem Senderstandort Oberlaindern aufgestellt hatten. Der Sender wurde zum Jahresende 2003 stillgelegt, die Skulptur 2009 demontiert.

[image]◄ Bild: Copilot von Microsoft


Das war's dann aber auch schon mit der "Plakataktion". Leider kam bei dem Verein niemand auf die Idee, das Foto eines Plakats in Aktion zu zeigen, die Größe der Plakate und die ausgebrachte Stückzahl zu benennen, den Sinn und Zweck der Aktion zu beschreiben und warum sie nicht im Sommer stattfindet, wenn es lange hell ist, sondern ausgerechnet mitten im Winter. Der Beitrag auf der Website trägt zwar den Titel "Unsere Plakat-Aktion in München und Umgebung", doch erzählt werden dann wieder einmal nur bekannte und abgedroschene Geschichten vom Pferd. Das nährt den Verdacht, dass die sogenannte Plakataktion nicht TAKALP-Wände ziert, sondern eher schlechte Din-A4-Schwarzweiß-Audrucke sind, die ein paar Vereinsmitglieder in die Fensterscheiben ihrer Wohnung geklebt haben. Als Münchener bin ich jedenfalls noch keinem Plakat der "Elektrosensiblen" begegnet, so wie auch alle anderen, die ich darauf angesprochen habe.

Eine der vorgetragenen Geschichten mit dem Charme einer Telefonbuchseite ist die 2011 entstandene Resolution 1815 des Europarats. Der Stuttgarter Verein Diagnose-Funk verbreite dazu seit 14 Jahren eine Falschmeldung und die Münchener "Elektrosensiblen" wollen die Stuttgarter in Sachen Desinformation offensichtlich noch übertrumpfen, denn sie lassen vom Stapel:

In der Europarats-Resolution 1815 (2011) hat das Europa-Parlament EHS als "eine echte und zunehmende umweltbedingte Krankheit" anerkannt und eine Neubewertung der Grenzwerte für elektromagnetische Strahlung gefordert. Die europäischen Länder sind angehalten worden, EHS anzuerkennen und Schutzzonen ohne Funk einzurichten. [...]

In den wenigen Zeilen jagt ein Klops den anderen:

► Die Resolution des Europarats wurde am 27. Mai 2011 nicht wie behauptet vom "Europa-Parlament" verabschiedet (720 Mitglieder), es hat mit dem Europarat überhaupt nichts zu tun, sondern von dem Ständigen Ausschuss der Parlamentarischen Versammlung des Europarats. Stimmberechtigt waren 29 Personen, drei enthielten sich der Stimme, der Rest war dafür (Quelle).
► Auch der Ständige Ausschuss des Europarats hat mitnichten "Elektrosensibilität" als "eine echte und zunehmende umweltbedingte Krankheit" anerkannt. Diese Behauptung ist frei erfunden, in der Resolution ist sie nicht sinngemäß und schon gar nicht wörtlich enthalten. Der Verfasser des Beitrags möge seinen Verstoß gegen das achte Gebot unverzüglich beichten.
► Nein, die Resolution fordert nicht "eine Neubewertung der Grenzwerte für elektromagnetische Strahlung", Forderungen stehen dem Europarat gar nicht zu, die Resolution empfiehlt lediglich eine Neubewertung.
► Nein, die europäischen Länder sind nicht "angehalten worden, EHS anzuerkennen und Schutzzonen ohne Funk einzurichten." Wäre es so gewesen, sollten sich 2025 zumindest Spuren davon in der EU finden lassen, doch es gibt keine, zumindest keine echten Spuren, nur haufenweise falsche Fährten (siehe Hintergrund). Richtig ist: Die Resolution hat europäischen Ländern empfohlen funkfreie Zonen einzurichten. Nicht mehr und nicht weniger.

Resolution 1815 ist rechtlich nicht bindend. Die Parlamentarische Versammlung des Europarats kann keine verbindlichen Vorgaben machen. Sie verabschiedet Resolutionen und Empfehlungen, die politisch appellativ sind, für die Mitgliedstaaten aber keinerlei Verpflichtungswirkung entfalten.

Was der Verein für Elektrosensible aus der Resolution 1815 macht, ist aus meiner Sicht ein schlecht gemachtes Zerrbild der Realität. Denn die in den Beitrag eingearbeiteten Verzerrungen lassen sich ohne große Mühe erkennen und das hat negative Rückwirkungen auf die Reputation des Vereins, der Gefahr läuft, sich den Ruf eines Desinformationsportals zu erarbeiten. Ich bin zuversichtlich, Eigeninteressen lassen sich auch ehrlich vertreten, ohne Verdrehungen und ohne Lügen.

Hintergrund
Schweden-Mythos: Elektrosensibilität keine anerkannte Erkrankung
Faktencheck: Hat die EU Elektrosensibilität wirklich anerkannt?
Dominique Belpomme: WHO hat "Elektrosensibilität" anerkannt
EWSA hat "Elektrosensibilität" keineswegs anerkannt
Bundestag: Petitionsausschuss lehnt EHS-Anerkennung ab

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Jedes komplexe Problem hat eine Lösung, die einfach, naheliegend, plausibel – und falsch ist.
– Frei nach Henry Louis Mencken (1880–1956) –


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