Microwave News mit Tunnelblick (Allgemein)
Microwave News gilt wegen meist seriös recherchierter Beiträge als der Mercedes unter den Websites von Mobilfunkkritikern. Im Vergleich zu den Websites anderer Kritiker trägt Macher Louis Slesin seine Gesinnung nicht plakativ aufdringlich zur Schau, sondern diskret. Jüngster Beleg für diese Einschätzung ist Slesins Kritik an der Entscheidung von Richter A. Irving im Gerichtsverfahren Murray vs. Motorola, seitens der Kläger vorgelegte Sachverständigengutachten samt und sonders zu verwerfen. Mit einem Aspekt seiner Kritik untergräbt Slesin jedoch selbst seinen Ruf als seriöser Kritiker.
Klar, die Entscheidung von Richter Irving kann Slesin nicht gefallen. In seinem Beitrag meldet er deshalb Zweifel an der Unabhängigkeit des Richters an. Geschenkt, so ein Reflex ist Gang und Gäbe. Worauf ich hinaus will ist das von Slesin am Ende seines Beitrags verbreitete Zitat:
“A Really Lousy Place to Decide Science”
Er will damit signalisieren, Gerichtssäle seien ein wirklich ungeeigneter Ort, um über offene Fragen der Wissenschaft zu befinden. Da Slesin Medizin und nicht Jura studiert hat, holte er sich das Zitat aus dem berufenen Mund eines Juraprofessors. Anlass für dessen Äußerung war ein kürzlich in den USA erschienener Medienbericht darüber, wie Gerichte mit wissenschaftlichen Aussagen in Fällen tödlicher Injektionen umgehen. Zur Bekräftigung lässt Slesin den obersten Richter am Bezirksgericht von Minnesota in derselben Sache sagen:
"Manchmal haben wir wirklich sehr schwierige technische Fragen. Und ein Kritikpunkt an Daubert ist, dass es den Richtern etwas abverlangt, wofür Richter nicht besonders gut geeignet sind."
Gerichtssäle sind zweifellos kein guter Ort, um wissenschaftliche Streitfragen zu klären. Doch dieser Ort kommt notgedrungen als dritte Staatsinstanz erst dann ins Spiel, wenn es einen zuversichtlichen Kläger gibt, der seinen Anspruch juristisch klären lassen will. Üblicherweise entscheiden Gerichte dann nicht selbstherrlich über eine wissenschaftliche Streitfrage, sondern darüber, wie hieb- und stichfest allgemeinverständliche Gutachten sind, die vonseiten der Kläger und Beklagten vorgelegt werden. In höheren Instanzen geht es in aller Regel selbst darum nicht mehr, sondern nur noch um juristische Verfahrensfragen.
Doch wenn ich Slesins Meinung teile, Gerichtssäle seien nicht der bestmögliche Ort zur Klärung wissenschaftlicher Streitfragen, was stört mich dann an seinem Einwand?
Es ist sein Tunnelblick. Auch Richter Irving begründete seinen Ausschluss der Gutachten einiger Sachverständiger mit deren Tunnelblick.
An Tunnelblick leiden Slesin und andere Mobilfunkkritiker nicht ständig, sondern situationsbezogen und deshalb vorhersagbar immer dann, wenn ein Befund (Studienergebnis, Gerichtsentscheid ...) gegen ihre Interessen ausfällt. Dann wird mit dem zweiten von zweierlei Maß gemessen. Das andere Maß kommt zum Tragen, fällt ein Befund für die Betroffenen "positiv" aus. Als Beleg für Slesins Tunneblick mag das Urteil des OLG Bremen vom 11. Dezember 2020 gelten, das zunächst vor allem Mobilfunkgegner in den D-A-CH-Ländern entzückte. Erst im Februar 2021 war das Urteil über den Großen Teich geschwappt und mutmaßlich mit gütiger Mithilfe von Diagnose-Funk bei Slesin gelandet. Der übernahm prompt die grob verzerrte Interpretation des Urteils, wie sie hierzulande z.B. von Franz Adlkofer und Diagnose-Funk in die Echokammern der Mobilfunkgegner eingespeist wurde. Der Einwand, Gerichtssäle seien nicht der richtige Ort zur Klärung wissenschaftlicher Streitfragen, kam Slesin seinerzeit nicht in den Sinn. Wie denn auch, deckte sich das Urteil doch scheinbar voll mit seinen Interessen als Mobilfunkkritiker. Warum nur scheinbar, das lässt sich hier nachlesen.
Wie wir alle ist auch Louis Slesin nicht gegen kognitive Verzerrungen gefeit. Sein Tunnelblick erklärt sich mMn mit dem "Bestätigungsfehler" (confirmation bias), das ist gemäß Wikipedia die Neigung, Informationen so auszuwählen und zu interpretieren, dass sie die eigenen Erwartungen bestätigen. Slesin ist bei unbequemen Befunden äußerst wachsam und recherchiert gründlich Fakten, mit denen er den Befund abwerten kann. Nichts davon zeichnet ihn bei seinem Bericht über das Bremer OLG-Urteil aus, er übernahm unkritisch den Mist, den sein deutscher Informant ihm zuspielte. Möglicherweise lag dies an der Sprachhürde, da die Originalinformationen nur in Deutsch zur Verfügung stehen. Zur Entlastung Slesins ist auch anzumerken, er gab Lerchl, dem Leidtragenden des Urteils, die Gelegenheit zu einem Kommentar, erhielt jedoch keine Antwort.
Slesins Engstirnigkeit bei seinem jüngsten Bericht über die für ihn unerfreuliche Entscheidung des Richters in den USA ist mMn menschlich nachvollziehbar und kein grobes Delikt. Sie zeigt jedoch, dass man auch Microwave News nicht blind vertrauen darf. Engstirnigkeit wird erst dann ein echtes Problem, wenn es Schwerstbetroffenen gelingt, mit beiden Augen durchs selbe Schlüsseloch zu spähen.
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Jedes komplexe Problem hat eine Lösung, die einfach, naheliegend, plausibel – und falsch ist.
– Frei nach Henry Louis Mencken (1880–1956) –